Huff, Tanya
denen sich der Leichnam meiner Mutter
befindet, finden wir dort auch Henry."
„Vielleicht hat er sich ja auch
versteckt. Vielleicht hat alles zu lange gedauert, und er hat den nächsten sicheren Unterschlupf
aufgesucht und sitzt dort den Tag aus."
„Das würde er mir
nicht antun, wenn es sich irgendwie vermeiden ließe." „Er
hätte angerufen?" Die Frage klang fast gegen Mikes Willen spöt tisch.
Vicki
reckte das Kinn. „Ja." Er würde nicht zulassen, daß ich ihn für tot h alte.
Wenn er es vermeiden kann. So etwas tut man niemandem an, den man zu
lieben behauptet. „Wir finden meine Mutter, und wir finden
Henry." Wenn er tot wäre, könnte er nicht anrufen. Er ist aber nicht tot. „Verstanden?" Celluci hatte wirklich verstanden. In neun Jahren
hatte er Übung dar in entwickelt, bei
Vicki zwischen den Zeilen zu lesen. Wenn sie nur sein Verständnis wollte ... Mike breitete beide Hände
aus und signalisierte mit dieser
Geste sowohl Versöhnungsbereitschaft als auch den Wunsch, die Diskussion zu beenden.
Vicki entspannte
sich. „Du kochst Kaffee, während ich dusche." Mike
verdrehte die Augen: „Wofür hältst du mich? Für einen Butler?" „Nein."
Vicki spürte, wie ihre Unterlippe zitterte und verbat sich das streng.
„Für jemanden, auf den ich zählen kann. Egal, was passiert." Dann machte
sie, ehe der Kloß in ihrem Hals noch mehr Schaden anrichten konnte, auf dem Absatz
kehrt und verließ den Raum mit langen Schrit ten.
Mike hatte nun selbst einen Kloß im Hals und schob sich
ärgerlich eine dunkle Haarsträhne aus dem Gesicht. „Immer,
wenn man es gerade aufgeben will", seufzte er und ging Kaffee kochen.
Vicki fuhr sich mit den Fingern durch das nasse Haar,
ging ins Wohn zimmer und ließ sich auf die Couch fallen.
Aus der Küche hörte sie Mike murmelnd mit sich selbst reden und
erinnerte sich an das, was in ande ren vergleichbaren
Situationen geschehen war. Es war besser, den Freund beim Kochen nicht zu
stören. Ohne recht zu wissen warum, hob Vicki den
Karton mit den persönlichen Sachen ihrer Mutter auf und stellte ihn vor sich
auf den Couchtisch.
So schlecht kann ein Tag gar nicht sein, daß man ihn
nicht noch mehr verderben könnte.
Der Karton enthielt überraschend
wenig: einen Pullover, der immer über der Rückenlehne des Schreibtischstuhls ihrer Mutter gehangen hat te; zwei Lippenstifte, der eine rosa, der andere ein
erstaunlich leuchten des Rot; eine halbvolle
Packung Aspirin; der Kaffeebecher; der Tischkalender mit dem letzten, so
vergebens vorgenommenen Eintrag; das Foto, das Vicki bei der Abschlußfeier der
Polizeiakademie zeigte, und ein klei ner
Stapel loser Blätter.
Vicki hob das Foto hoch und starrte in das strahlende
Gesicht der jun gen Frau darauf. Wie jung sie darauf aussah,
wie ungeheuer selbstsicher. „Ich sehe aus, als dächte ich, ich wüßte alles!"
„Das denkst du doch immer noch!" Mike gab Vicki
einen Becher Kaf fee und schnappte sich das Bild. „Ach du guter Gott: Ein
Jungbulle!"
,Wenn ich dich
gar nicht beachte, gehst du dann wieder zurück in die Küche?"
Celluci dachte eine Sekunde lang nach.
„Nein."
„Großartig." Sicherheitshalber zog Vicki den Bademantel noch
enger und hob den Stapel loser Blätter aus
dem Karton. Wie kommt Mrs. Shaw darauf, ich könnte mich für die Notizzettel meiner Mutter interessieren? Dann sah sie, wie jede Seite begann:
Liebe Vicki,
du
fragst dich sicher, warum ich schreibe und nicht anrufe. Ich muß dir etwas
Wichtiges sagen, und ich glaube, ich kann das schriftlich, ohne jeg liche
Unterbrechung, besser. Ich habe schon lange keinen Brief mehr ge schrieben,
entschuldige daher ...
Liebe
Vicki,
habe ich dir erzählt, was herauskam, als ich mich das
letzte Mal gründ lich untersuchen ließ? Wahrscheinlich nicht,
um dich nicht mit den Einzelheiten zu langweilen. Aber ...
Liebe Vicki,
als erstes möchte ich dir sagen, daß ich dich sehr, sehr
lieb habe .
Liebe Vicki,
als dein Vater
fortging, versprach ich, immer für dich da zu sein. Ich wünschte
...
Liebe Vicki,
manches
läßt sich leichter schreiben als sagen, und ich hoffe, du ver zeihst mir, wenn ich diese Distanz zwischen uns
schaffe. Dr. Friedman sag te, ich
habe einen Herzfehler und lebe nicht mehr lange. Ehe du dich nun a ufregst
und verlangst, daß ich noch einen anderen Arzt aufsuche: Das habe ich bereits getan.
Ja,
ich habe Angst. Aber im wesentlichen habe ich Angst, daß etwas passieren
könnte, ehe ich den Mut gefunden habe, es dir zu
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