Huff, Tanya
in einem Schlafzim mer in der
Bloor Street, hatte sie sich vorgebetet, aber ein zitternder Fetzen Fantasie,
von dem sie nicht einmal gewußt hatte, daß sie ihn besaß, antwortete stets: Nein, es ist eine Gruft.
Als der Fahrstuhl im Erdgeschoß angekommen war, richtete sie sich auf
und durchquerte die Eingangshalle, als seien ihre Nerven nicht zum äußersten gespannt. Sie nickte dem Wachmann zu, als sie an seinem
Tisch vorbeikam, und war zum ersten Mal seit einem
Jahr froh, in eine Nacht hinaustreten zu können, die sie nicht sehen konnte.
„Jo, Victory!"
Manche Dinge braucht man nicht zu sehen. „Hallo und tschüss, Tony."
Sie fühlte, wie er sie am Arm berührte, und hielt an. Wenn sie
blinzelte, konnte sie sein Gesicht im Licht der Straßenlaterne als blasses Oval
wahrnehmen.
Er schnalzte mit der Zunge. „Du siehst miserabel aus. Was war?"
„Ich habe einen anstrengenden Tag hinter mir." Sie seufzte. „Was machst du hier in der Gegend?"
„Na ..." Er räusperte sich und klang leicht verlegen. „Ich hatte irgendwie so
das Gefühl, daß Henry mich braucht, also ..."
Um jetzt schon hier warten zu können, hätte er Henrys Bedürfnisse verspüren müssen, ehe sich Henry überhaupt ihrer bewußt geworden war.
Wunderbar. Ein ehemaliger Straßenjunge, der Dinge vorausse hen konnte - das hatte ihr gerade noch gefehlt.
„Wenn Henry dich braucht, dann
kommst du?" Selbst für ihre eigenen Ohren klang ihre Stimme sehr scharf, und sie mußte erstaunt zur
Kenntnis nehmen, daß in der Schärfe ein Gutteil Eifersucht mitschwang. Henry
hatte sie gebraucht, und sie war gegangen.
„Hey, Victory, nun reg dich nicht auf." Tony sprach sanft, als habe er ihre Gedanken erraten. „Für mich ist es leichter. Ich
hatte kein Leben, bis Henry auftauchte. Er kann mich ummodeln, wie er will. Du bist schon so lange du selbst. Eure
Persönlichkeiten auf einen Nenner zu bringen ist viel schwerer."
Du bist schon so lange du selbst. Sie spürte förmlich, wie sich ihre Schultern entspannten. Wenn jemand das verstand, dann Henry Fitzroy. „Danke, Tony."
„Keine Ursache." Da war der freche Ton wieder. „Soll ich dir ein Taxi rufen?"
„Nein danke."
„Dann gehe ich jetzt mal hoch."
„Bevor dir die Hose platzt?"
„Mein Gott, Vicki!" Sie konnte sein Lächeln förmlich hören. „Ich dachte, du siehst im Dunkeln nichts!"
Sie hörte ihn fortgehen, hörte, wie sich die Tür zum Gebäude öffnete und hinter ihm wieder schloß und tastete sich dann vor bis
zum Bürgersteig. In einiger Entfernung konnte sie die Lichter der Kreuzung Yonge und Bloor Street erkennen und beschloß, zu Fuß zu gehen.
Normalerweise reichte ihr die Beleuchtung der Stadt, um sich zu orientieren,
wenn sie auch nicht wirklich etwas sah. Außer dem
glaubte sie, es nicht ertragen zu können, schon wieder in einem dunklen,
geschlossenen Raum zu sitzen.
Als sie ein gutes Dutzend Schritte vom Gebäude entfernt war, blieb sie stehen. Sie war so sehr damit beschäftigt gewesen, aus Hen rys Wohnung
herauszukommen, daß sie ihn noch nicht einmal nach seinem Traum befragt hatte.
Sie dachte kurz daran, zurückzugehen, dann
grinste sie jedoch und schüttelte den Kopf: Henry würde den Rest der
Nacht keinen zusammenhängenden Gedanken fassen können, geschweige denn sich
sorgen; darauf hätte sie ihr letztes Hemd verwettet. In den Jahren, die er auf
der Straße verbracht hatte, hatte Tony ein
paar interessante Dinge gelernt, und Ablenkung war davon nicht das Unwichtigste.
FÜNF
Er sah sich auf dem gedeckten Frühstückstisch um - eine Schale mit Erdbeeren und Melonen, drei perfekt gebratene Spiegeleier, das Weiße hart, das Gelbe weich, sechs Scheiben rohes Roastbeef, Körnerbrötchen, ein Glas eisgekühlter Aprikosennektar und eine Kanne frisch aufgebrühter Kaffee - entließ die junge Frau, die das alles
aufgetragen hatte, mit einem wohlwollenden Kopfnicken und schlug die überregionale Tageszeitung auf, die er
sich hatte besorgen lassen. Vor ihm
lagen zudem die Morgenausgaben der drei Zeitungen, die in Toronto
herauskamen, aber er hatte zuerst einmal die Zeitung aufschlagen wollen, die
mehr Text als Bilder zu enthalten schien.
Nachdem er am Vortag das Ka des Kindes verschlungen hatte, war der Rest des Tages mit der Beschaffung passender Kleidung und einer angemessenen Behausung vergangen. Die Ladeninhaber der kleinen und sehr exklusiven Herrenbekleidungsgeschäfte entlang der Bloor
Street waren so sehr mit ihrem eigenen und seinem Status beschäftigt
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