Huff, Tanya
mit dem Alter auch die Furcht bannte. Wem auffiel, daß er sich äußerlich verän derte - sein Rücken wurde gerade, sein Haar
dunkelte nach - der weigerte sich, seinen Augen zu trauen, und er war
erstaunt darüber, wie einfach diese Menschen alles, was außerhalb des
Wahrscheinlichen' lag, einfach aus ihrem Bewußtsein tilgten. Aus diesem Material,
formbar wie atmender Ton, würde er ein Reich bauen, das alle vergangenen Reiche überschatten sollte.
Wie schon in den beiden Nächten zuvor mußte Henry auch an diesem Abend
beim Erwachen feststellen, daß sich das Bild der goldenen Sonne fest in seine
Erinnerung eingebrannt hatte. Aber erstmals
verband sich mit diesem Bild nicht die automatische Furcht vor dem Wahnsinn, denn in seinem Schlafzimmer hing derart schwer
der Geruch nach Blut, daß der Wahnsinn im Vergleich zu seinem Hunger zu einer Nebensächlichkeit wurde.
„Na Gott sei Dank! Endlich bist du wach."
Es dauerte
eine Weile, bis er klar und zusammenhängend denken konnte. ,Vicki?" Ihre Stimme hatte so angespannt und müde geklun gen, daß er sie fast nicht erkannt hätte. Er
richtete sich auf und sah sie einen Moment lang gegen die Tür gepreßt stehen,
dann kniff er die Augen zusammen, als
sie das Licht einschaltete und der helle Strahl seine Augen traf.
Als er wieder sehen konnte, war die Tür offen, und Vicki war ver schwunden. Er
folgte der Spur des Blutes bis ins Wohnzimmer und fand die Freundin hinter der Couch, die Finger tief in die Polsterung der Rückenlehne vergraben. Alle Lichter, an denen
sie vorbeigekommen war, waren eingeschaltet. Sein Hunger pulsierte im Takt mit ihrem Herzschlag.
Sie sah auf, als er sich ihr näherte. „Nein, Henry!"
Wäre er
jünger gewesen, hätte er sich vielleicht nicht zügeln können, aber wenn es
vielleicht auch das einzige war, was er in seinen vierhundertfünfzig Jahren gelernt hatte, dann war es dies: Er hatte sich unter Kontrolle. „Was ist?"
„Ich war den ganzen Tag lang eingesperrt mit dir in dem Zimmer da, das
ist."
„Wie bitte?"
„Wie hätte ich denn gehen können? Ich konnte die Tür nicht öffnen, ohne
zumindest ein klein wenig Sonnenlicht durchzulassen und da ich eigentlich aufpassen sollte, daß du dich nicht selbst ent zündest, wäre es wenig sinnvoll gewesen, wenn ich
dich statt dessen gebraten hätte.
Also saß ich in der Falle." Ihr Lachen klang ein wenig gezwungen. „Zum Glück geht ein Bad von deinem
Schlafzimmer ab."
„Vicki, das tut mir unendlich leid ..." Er trat einen Schritt vor, aber sie hob beide Hände, und er hielt erneut inne, obwohl das Blut, das unter der zarten Haut ihrer Handgelenke pulsierte, ihn magisch anzog.
„Ich sage nicht, es sei deine Schuld. Wir hätten uns beide damit befassen
müssen." Sie holte einmal tief Luft und rückte ihre Brille zurecht. „Ich kann heute nacht nicht bleiben. Ich
muß hier raus."
Er mußte sich
nähren, und er wußte, daß er sie zum Bleiben hätte überreden können, und zwar so, daß sie der Meinung gewesen wäre, es
sei ihre eigene Idee gewesen. Er verstand sich zwar selbst nicht ganz, aber er
schob seinen Hunger beiseite und nickte ihr zu: „Dann geh."
Vicki griff nach Jacke und Handtasche und rannte fast zur Tür, hielt dann aber, die Hand schon am Türgriff, inne und brachte ein zitterndes Lächeln zustande. „Zwei Dinge sprechen für dich als Bett genossen, Fitzroy: Du schnarchst nicht, und du klaust einem nicht die
Bettdecke." Mit diesen Worten verschwand sie.
Als der Tag von ihm Besitz ergriffen hatte und er nichts anderes mehr hatte spüren können als den Druck ihrer Lippen und all das Leben, das in
diesen Lippen lag, hatte Henry sich vorzustellen ver sucht, wie diese neue Intimität die Beziehung zwischen ihm und Vicki
verändern würde.
Die Realität kam nicht annähernd an seine Vorstellungen heran.
Vicki lehnte
sich matt an die Stahlwand des Lifts und schloß die Augen. Sie fühlte sich als völliger Schwächling. Weglaufen hilft Hen ry wirklich nicht gerade, oder? Aber es war ihr
einfach nicht möglich gewesen, zu bleiben.
Bis zum frühen Nachmittag hatte sie vor schierer Erschöpfung geschlafen, aber dann wurden die Stunden zwischen ihrem Erwachen und dem Sonnenuntergang zu den längsten, die sie je durchlebt hatte. Henry war ihr, wie er dort so völlig leer gelegen hatte, viel fremder erschienen als je zuvor, wenn er ihr Blut getrunken hatte. Wohl hundert Mal hatte sie sich zur Tür getastet und sich hundert Mal dagegen entschieden, sie zu öffnen. Du bist
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