Hundeelend
Gesichter noch weiter von den Unbilden der Witterung in Mitleidenschaft gezogen wurden. Die Passanten warfen ihr ärgerliche Blicke zu, Alison krähte fröhliche Weihnachten , woraufhin ein paar von ihnen ein gezwungenes Lächeln aufsetzten, die meisten jedoch einfach
weiterliefen. Ihre Wangen glühten. Sie trug ihre Lieblingskappe, die wollene Fliegermütze mit Ohrenklappen, die sie unterm Kinn locker zusammengeknotet hatte.
»Ich liebe Weihnachten!«, rief sie.
»Technisch gesehen ist noch gar nicht Weihnachten«, erwiderte ich, aber vermutlich hörte sie mich nicht. Ich blieb hinter der Theke. »Kannst du bitte die Tür zumachen?«
Bei dem zerrütteten Zustand meines Immunsystems durfte ich kein Risiko eingehen und mich etwa heftigen Temperaturschwankungen aussetzen. Kälte konnte ich einigermaßen ertragen; und wenn ich mir ein heißes Mikroklima schuf, mit hochgedrehter Heizung und mit einer Wärmflasche im Rücken wie gerade eben noch, fühlte ich mich richtiggehend wohl. Aber meinen Körper gemischten Reizen auszusetzen wie jetzt – gewissermaßen mit einem Fuß im Amazonasgebiet und mit dem anderen in der Arktis –, das konnte nur zu Konfusion, Kollaps und plötzlichem Tod durch eine bizarre Mischung aus Hitzschlag und Unterkühlung führen. Glücklicherweise habe ich so wenig Kundschaft, dass das normalerweise nicht zum Problem wird.
Irgendwann nach einer gefühlten Ewigkeit kam Alison schließlich herein und schloss die Tür. Kurz rieb sie sich ihre rosafarbenen, feuchten, eiskalten Hände, bevor sie unvermittelt das Offen -Schild herumdrehte und den Laden von innen abschloss. Dann wirbelte sie herum, blickte mich an und grinste herausfordernd.
Ich wollte etwas sagen, war aber so in Rage, dass ich nur ein schwaches Stottern herausbrachte, wie ein Moped mit Zucker im Tank.
»Bleib, wo du bist, und halt die Klappe, Meisterdetektiv«, sagte Alison. »Ich werde dir ein Angebot unterbreiten, das du nicht ablehnen kannst.«
Sie steuerte auf die Verkaufstheke zu.
»Was immer du mir anzudrehen versuchst«, quetschte ich schließlich hervor, »ich kaufe nichts. Besonders keine Comics.«
»Halt die Klappe. Für unser Baby ist es das erste Weihnachten. Daher denke ich, wir sollten es alle gemeinsam feiern.«
»Ich hab schon was anderes vor.«
»Du und die Hirntote?«
»Vorsicht.«
»Du wirst sie in einem Stuhl vor die Glotze schieben, ihr ein Papierhütchen aufsetzen und ihr Kartoffelbrei mit brauner Soße füttern. Und das ist dann das Highlight des Abends.«
Wütend starrte ich sie an. In Wahrheit hatte ich nicht einmal vorgehabt, Mutter aus ihrem Raum zu lassen. Eigentlich wollte ich an ihrem Bett sitzen und ihr laut aus Psycho vorlesen, ohne dass sie irgendetwas dagegen tun konnte. Zumindest war sie bisher auf nichts gekommen.
Alison verschränkte die Arme auf der Theke. Ich lehnte mich in meinem Stuhl zurück.
»Hast du wenigstens schon einen Truthahn bestellt?«
»Spar dir dein …«
»Hier kommt mein Angebot. Du und …« Sie räusperte sich. »Du und deine Mutter, ihr kommt an Weihnachten zu mir. Es gibt ein leckeres, großes Essen. Mit allen Schikanen. Keiner von euch braucht einen Finger zu rühren;
mal abgesehen davon, dass du gar nicht auf die Idee kämst oder sie dazu in der Lage wäre. Das ist meine Art, mich bei ihr zu entschuldigen. Hast du ihr schon von dem Baby erzählt?«
»Welchem Baby?«
»Gut, dann ist Heiligabend die perfekte Gelegenheit. Das allerschönste Weihnachtsgeschenk. Was wird es in ihr auslösen, wenn sie erfährt, dass sie Oma wird?«
»Ich kann mir nicht vorstellen, dass sich ihr Zustand dadurch groß bessert. Sie hat es ja schon gehasst, Mutter zu sein.«
»Wen wundert’s. Also, kommt ihr?«
Weihnachten ist ein Albtraum für mich. Ich hasse die ganze Hektik, die Gier, die Heuchelei, das billige Brimborium, die maulenden Kinder, die Weihnachtslieder, die gezwungene Fröhlichkeit, das Einkaufen, das Verpacken von Geschenken, die Sauferei, die Völlerei, das Fernsehen, das Wetter, die peinlichen Präsente, Gott, Jesus, Engel, blinkende Lichter, umstürzende Weihnachtsbäume, künstliche Bäume, echte Bäume, Lametta, Grußkarten, Postboten, Briefmarken, ständiges Läuten an der Tür, Benachrichtigungen des Paketboten, Rasierwasser, Socken, selbstgestrickte Pullover, Büchergutscheine, mehr Büchergutscheine, und noch mehr Büchergutscheine, Truthahnfüllung, Rotkraut, Preiselbeersoße, Weihnachtsplätzchen und – das Allerschlimmste von allem –
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