Hundert Namen: Roman (German Edition)
einige hatte sie noch kaum einen Gedanken verschwendet, weil sie so weit draußen wohnten. Ihr Magen knurrte. Seit dem Lunch mit Mary-Rose hatte sie nichts mehr gegessen, und ihr Kühlschrank war leer – sie hatte keine Zeit zum Einkaufen gehabt, sich durch nichts ablenken lassen wollen. Sie steckte tief in den Geschichten dieser Männer und Frauen: Archie, Eva, Birdie, Mary-Rose, Ambrose und Jedrek. Die Sorgen und Probleme, die Freuden, Erfolge und Misserfolge dieser Leute waren Kittys Sorgen, Probleme, Freuden, Erfolge und Misserfolge geworden.
Aber – und das war ein sehr großes Aber – ganz gleich, wie intensiv sie die Namen anstarrte und wie fasziniert sie von ihren Geschichten war, sie wollten sich einfach nicht zu einem einheitlichen Artikel kombinieren lassen, den sie für Constances Tribut verwenden konnte, einen Artikel, der die Geschichten nahtlos zusammenfasste, vereint unter einer einzigen beeindruckenden Überschrift. Kitty legte den Kopf auf den Tisch und stöhnte. Pete hatte sehr deutlich gemacht, dass er nicht gewillt war, von Freitag als endgültiger Deadline abzurücken. Er hatte sich Kittys Verzögerungstaktik lange genug gebeugt, hatte panische Anzeigenkunden beschwichtigt und ihr erlaubt, trotz allem für Etcetera zu schreiben. Allein dafür schuldete sie ihm eine Menge. Er hatte für sie gekämpft, und es war Zeit, dass sie sich revanchierte, indem sie ihr Versprechen hielt und ihren Artikel termingerecht ablieferte. Aber sie war so mit den Menschen auf der Liste beschäftigt gewesen, dass sie kaum Zeit gehabt hatte, sich der Wahrheit zu stellen. Und die Wahrheit war, dass sie ein Problem hatte, und zwar ein ziemlich großes. Jetzt war es Zeit, dass sie es zugab, nicht nur vor sich, sondern auch noch vor jemand viel Wichtigerem.
Kitty klopfte an Bobs Tür, denn Bob war der einzige Mensch, bei dem sie es schaffen würde, ehrlich über Constances Geschichte zu reden. Außerdem hoffte sie, dass er, der er Constance so gut gekannt hatte wie kein anderer, ihr vielleicht helfen konnte, ein bisschen Licht auf ihr Problem zu werfen.
Er öffnete die Tür mit einem Lächeln. »Ich hab dich schon erwartet.«
»Wirklich?«
»Aber du bist später dran, als ich dachte. Mehrere Tage später, Liebes. Aber egal, komm rein.«
Er wirkte gut gelaunt, sah aber erschöpft aus und bewegte sich mit einer Müdigkeit, die auch Kitty in ihrem Inneren spürte – eine Müdigkeit, die von der tiefen Trauer herrührte, von der Leere in ihren Herzen. Das Herz wusste, dass etwas fehlte, und es musste sich ganz besonders anstrengen, um es auszugleichen.
Das Wohnzimmer war genauso chaotisch wie immer, daran zumindest hatte Constances Tod nichts geändert. Wenn überhaupt, war das Chaos eher größer geworden. Teresa hatte es nicht geschafft, Bobs und Constances Ordnungssystem zu ändern, aber Kitty war auch sicher, dass Bob sich eisern gewehrt hätte, wenn sie versucht hätte, ihm einen geradlinigeren, pragmatischeren Lebensstil aufzuzwingen. Irgendwo in dem ganzen Durcheinander gab es eine Ordnung, die niemand anderes entziffern konnte. Am Küchentisch konnte man nicht sitzen, denn er quoll über von Papieren und einem wilden Mischmasch weiterer Gegenstände, die auch bereits die sechs zum Tisch gehörigen Stühle in Beschlag genommen hatten.
»Kaffee?«, fragte Bob aus der Küche.
»Ja, bitte.«
Kitty wusste, dass es gut für sie gewesen wäre, zeitig ins Bett zu gehen, weil sie seit Wochen nicht mehr richtig geschlafen hatte. Aber heute würde sich daran garantiert nichts ändern, also spielten auch eine oder zwei Tassen Kaffee keine Rolle mehr, und für das bevorstehende Gespräch brauchte sie einen klaren Kopf. Sie musste den Nebel aus ihrem strapazierten Hirn vertreiben, denn das fühlte sich an, als wäre es tagelang auf Verbrecherjagd gewesen und hätte auf der Suche nach ihrer Geschichte erfolglos Straßen und Häuser durchkämmt. Jetzt musste sie einen Schritt zurücktreten, die geplünderten Straßen mit neuen Augen betrachten, zurückspulen, von vorn anfangen. Und dafür brauchte sie Bobs Hilfe. Sie hätte ihn direkt darum gebeten, aber dafür musste sie ihm gestehen, dass sie ihr Versprechen nicht halten konnte, obwohl er sie so unermüdlich unterstützt und an sie und ihre Fähigkeit, Constances letzte Geschichte zu schreiben, geglaubt hatte – trotz Cheryls und Petes so offen geäußerter Zweifel. Sie hatte versagt, sie war eine Enttäuschung für Bob. Aber als sie jetzt in dieser Wohnung
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