Hundert Namen: Roman (German Edition)
lassen – und konnte es vermutlich auch nicht.«
Sie verstummte einen Moment.
»Es ist wirklich eine alberne Geschichte, Kitty.«
»Nein, bitte erzählen Sie es mir.«
»Ich denke, ich habe mich daran gewöhnt, so behandelt zu werden. Als könnte ich jeden Augenblick zerbrechen. Ich durfte nicht zu schnell rennen, nicht zu laut lachen, nicht zu viel unternehmen, musste immer alles fein langsam angehen – aber ich mochte das nie. Der ganze Ort wusste, dass ich die kranke Tochter des Schuldirektors war, und viele glaubten, die TB würde zurückkommen. Ich war anfällig, ich war zart, man konnte mich nicht behandeln wie alle anderen, denn ich konnte jeden Moment tot umfallen und würde meinen achtzehnten Geburtstag aller Wahrscheinlichkeit nach nicht erleben. Als ich von zu Hause wegzog, brach ich meinem Vater das Herz, aber ich brauchte meinen eigenen Raum, meine eigene Identität. Mit der Zeit habe ich all diese Gefühle vergessen, denn ich hatte genug anderes im Kopf: Ich heiratete, bekam Kinder, zog sie groß, und endlich konnte ich mich zur Abwechslung mal um andere kümmern. Aber jetzt sehe ich, dass das alles war, was ich getan habe. Als wäre es meine Art gewesen, gegen die Erfahrungen meiner Jugend zu rebellieren. Bevor ich in Dublin meinen Mann kennenlernte, habe ich als Kinderfrau gearbeitet, habe mich um die Kinder von anderen gekümmert – und wollte nie wieder selbst so beaufsichtigt werden.
Aber seit ich hier lebe, kommt das alles wieder zurück, dieses Gefühl von …« Sie unterbrach sich, dachte nach und sah dabei aus, als hätte sie einen schlechten Geschmack im Mund. »Dieses Gefühl, verhätschelt zu werden. Hilflos zu sein. Meine Kinder, sosehr ich sie liebe, haben mich ja auch schon fast abgeschrieben. Ich bin alt, ich weiß, aber ich habe durchaus noch Feuer in mir. Ich bin immer noch … lebendig!« Sie lachte leise. »Oh, wenn die Leute in meinem Heimatort mich jetzt sehen könnten!«
Birdies Augen blitzten schelmisch. »An meinem achtzehnten Geburtstag habe ich eine Wette abgeschlossen. An dem Tag, als ich das Dorf für immer verlassen habe, habe ich das ganze Geld, das mein Vater mir zum Geburtstag geschenkt hat, verwettet.«
»Was war das denn für eine Wette?«
»Ich habe gewettet, dass ich mindestens fünfundachtzig Jahre alt werden würde.«
Kitty sperrte die Augen auf. »Kann man auf so etwas wetten?«
»Josie O’Hara, der geizigste Kerl des Orts, stammte aus einer Familie mit Generationen von Buchmachern. Er dachte, dass ich den Abgang machen würde, wie so viele andere, und deshalb hat er meine Wette angenommen.«
»Um wie viel Geld ging es denn?«
»Ich habe hundert Pfund gesetzt. Damals war das eine Menge. Und der Buchmacher war so überzeugt von meinem baldigen Ableben, dass er mir aus freien Stücken eine Gewinnquote von hundert zu eins angeboten hat.«
»Das heißt also, Sie kriegen jetzt …« Kitty rechnete im Kopf nach.
»Zehntausend Pfund«, kicherte Birdie.
»Birdie!« Kitty schnappte nach Luft. »Das ist ja phänomenal! Zehntausend Pfund!«
»Ja«, bestätigte Birdie und zog die Augenbrauen hoch. »Aber es geht mir um mehr als das Geld«, fügte sie hinzu und wurde wieder ernst. »Nicht dass einer von den alten Knackern etwa noch am Leben wäre, aber ich muss hinfahren, für mich selbst.«
»Sie haben da noch was zu erledigen«, lächelte Kitty, ganz begeistert von dieser Geschichte.
»Ja«, meinte Birdie nachdenklich. »So ist es wohl.«
»Der Plan ist folgender«, sagte Molly, die unbemerkt herangekommen war, und beugte sich verschwörerisch zu Kitty und Birdie über den Gartentisch. »Jetzt, wo Sie ohnehin Bescheid wissen, können wir Ihre Hilfe gut gebrauchen.«
»Oh, ziehen Sie Kitty doch da nicht auch noch mit rein«, unterbrach Birdie sie.
»Machen Sie Witze? Das möchte ich um nichts in der Welt verpassen.«
»Ehrlich?«
»Das ist das Aufregendste, was ich den ganzen Tag gehört habe. Abgesehen davon, dass ein Mann mir erzählt hat, er hört die Gebete anderer Menschen. Und von der Frau, die jede Woche einen Heiratsantrag kriegt.«
»Was?«, fragte Molly.
»Ach, tut nichts zur Sache.«
»Okay, also der Bus wird von Donnerstagmorgen, wenn die Oldtown Pistols von ihrem Halbfinale mit den Balbriggan Eagles zurückkommen, bis Freitagabend, wenn die Pink Ladies zum Bridge fahren, nicht gebraucht. Das verschafft uns ein gutes Zeitfenster, das heißt, wir fahren am Donnerstagvormittag um zehn los nach Cork, übernachten dort, holen das
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