Hundert Namen: Roman (German Edition)
stand, in der sie ihre Freundin noch fühlte, in der es immer noch nach ihr roch, als wäre sie einfach nur für einen Moment ins Nebenzimmer gegangen, da war das Gefühl, Constance zu enttäuschen, noch schrecklicher. Es zerriss ihr das Herz, es war schlicht unerträglich. Sie sollte Constances Stimme sein, jetzt, wo sie nicht mehr selbst sprechen konnte, und was tat sie stattdessen? Sie stotterte und stammelte, sie druckste herum, überlegte hin und her und war nicht annähernd so wortgewandt, wie es Constance selbst über den Tod hinaus zu sein schien.
Ein Augenblick verstrich. Kitty betrachtete das allgegenwärtige Chaos, aber auf einmal fiel ihr auf, dass ihr aus der Küche keineswegs der erwartete Kaffeeduft in die Nase stieg und dass von Bob nichts zu hören war. Als sie nachschaute, stand er reglos und völlig verloren mitten in dem kleinen Raum und starrte auf die Schränke. Obwohl Bob zehn Jahre älter war als Constance, hatten sie immer gleich alt gewirkt. Kitty hätte nicht sagen können, ob es daran lag, dass Constance sich älter benahm oder Bob jünger, aber woran es auch liegen mochte, sie ergänzten sich perfekt, sie harmonierten – abgesehen von gelegentlichen Meinungsverschiedenheiten – so vollkommen, dass man nie auf die Idee gekommen wäre, dass ein ganzes Jahrzehnt zwischen ihnen lag. Es war, als wären sie gleichzeitig auf diesem Planeten gelandet und hätten einander Tag für Tag begleitet, als wären sie einfach füreinander geschaffen. Kitty fand es schwierig, sich Constances Leben in der Zeit vorzustellen, bevor sie Bob kennengelernt hatte, oder das von Bob vor Constance. Die Tatsache, dass Bob schon zehn Jahre auf der Welt gewesen war, bevor Constance überhaupt geboren war, wollte ihr nicht in den Kopf. Manchmal fragte sie sich, ob er an dem Tag, an dem sie auf die Welt gekommen war, wohl irgendetwas gespürt hatte, ohne zu wissen, warum. Ob es einen Augenblick gegeben hatte, an dem das Leben dieses zehnjährigen Jungen, der in Dublin heranwuchs, sich auf einmal richtig angefühlt hatte, weil in Paris eine neue kleine Seele angekommen war.
Aber als sie Bob jetzt anschaute, sah Kitty ihn ohne Constance, und es war beinahe, als würde sie einen Körper ohne Seele sehen. Ein Licht war erloschen.
»Bob«, sagte sie leise und legte ihm die Hand auf die Schulter.
»Ja.« Langsam kam er wieder zu sich, richtete sich auf, als wäre ihm plötzlich eingefallen, dass er ja Besuch hatte.
»Lass mich doch den Kaffee machen, dann kannst du dich hinsetzen und ein bisschen entspannen«, schlug Kitty vor, schob ihn sanft beiseite und begann in den Schränken nach den Kaffee-Utensilien zu suchen.
»Ja, ja, wirklich«, sagte er, abgelenkt von irgendeiner Erinnerung, einem plötzlichen Gedanken, und nahm in dem einzigen Sessel Platz, der nicht von Zeitungen und Zeitschriften belegt war.
Doch soviel Kitty auch suchte, aus den Schränken blickten ihr nur Bücher entgegen, dicht gepackt wie auf einem Bücherregal, alles bis auf den letzten Zentimeter vollgestopft, aber es gab keine Tasse, keine Untertasse, keinen Teller, und es war auch nichts Essbares in Sicht. Kitty runzelte die Stirn und begann nach der Kaffeekanne und nach Tassen zu suchen. Vergeblich. Sie versuchte es mit Constances und Bobs Logik und ging ins Wohnzimmer, um auf den Bücherregalen nach Tassen zu sehen, aber auch hier hatte sie keinen Erfolg. Keine Logik, keine Tassen, nur noch mehr Bücher. Sie beschloss, die Tassen erst einmal aufzugeben und sich auf Kanne und Pulverkaffee zu konzentrieren, aber auch hierfür gab es keine Anzeichen, sie entdeckte nur die einsame Teekanne, die einmal eine Spardose gewesen war.
»Bob«, sagte sie und konnte sich nur mühsam das Lachen verbeißen. »Wo bewahrt ihr denn normalerweise den Kaffee auf?«
»Oh«, antwortete er betroffen, als wäre ihm dieser Gedanke noch nie gekommen. »Für gewöhnlich gehen wir ins Café, wenn wir Kaffee trinken wollen, aber Teresa trinkt manchmal welchen hier, aus einem Becher, also muss hier eigentlich irgendwo welcher sein.«
Kitty schaute sich noch einmal in der Küche um. Auf dem Kalender, einem Kamasutra-Kalender, der mit Klebeband am Kühlschrank befestigt war, war Stellung Nummer fünf für den Mai zu sehen, die erhobene Missionarsstellung . Kitty öffnete den Kühlschrank, der zu ihrer Enttäuschung vollkommen leer war, denn nach der Abbildung auf der Tür hatte sie eigentlich etwas Spannenderes erwartet. »Vielleicht bringt Teresa ihren eigenen Kaffee
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