Hundert Namen: Roman (German Edition)
erledigen zu lassen – Klamotten zur Reinigung bringen, einkaufen, Hausarbeit. Geschenke kaufen steht bestimmt auch nicht sehr weit oben auf deren Prioritätenlisten.«
»Na ja, wenn das hier der Fall ist, werde ich nicht für ihn arbeiten.«
»Warum nicht?«
»Weil ich mich lieber jemandem widme, der tatsächlich das perfekte Geschenk für einen geliebten Menschen sucht – im Gegensatz zu jemandem, dem es im Grunde egal ist. Ich suche mir meine Klienten ebenso sorgfältig aus, wie sie sich mich aussuchen«, erklärte Eva mit großen Augen, und man hörte ihr an, wie aufrichtig sie es meinte.
Kitty war fasziniert, sowohl von Evas Philosophie als auch davon, mit welcher Ernsthaftigkeit sie ihren Job anging.
»Ich investiere eine Menge Zeit in meine Klienten, Kitty«, fuhr Eva lächelnd fort. »Ich muss wissen, dass ihnen die Person, der sie etwas schenken wollen, am Herzen liegt, denn wie sollte sie mir sonst am Herzen liegen? Ich bin sicher, das ist so ähnlich, wie wenn Sie einen Artikel schreiben. Wenn die Geschichte Ihnen nicht am Herzen liegt, wie soll sich dann der Leser dafür interessieren?«
Kitty dachte nach. Was Eva da sagte, war die Wahrheit.
Nachdem sie etwa zehn Minuten in einer mit glänzendem Marmor ausgestatteten Rezeption gewartet hatten, klingelte der Aufzug, und ein Gentleman in einem eleganten Anzug mit pinkfarbener Krawatte und Einstecktuch kam auf sie zu. Kitty erriet sofort, dass es nicht George Webb war, denn der Mann erinnerte sie eher an eine jüngere Version des Comedians Julian Clarey, mit perfekt gezupften Augenbrauen und einem makellosen Teint, der offensichtlich seit Kindertagen gewissenhaft gepflegt wurde. Make-up konnte sie nicht entdecken, aber die schimmernden Wangenknochen machten sie richtig neidisch.
»Ich bin Nigel«, stellte sich der gepflegte junge Mann vor, ohne ihnen jedoch die Hand zu geben. »Ich soll Sie zum Büro bringen. Und wer sind Sie?«, erkundigte er sich, an Kitty gewandt.
»Kath–, äh, Kitty Logan«, stotterte sie, denn sie hatte sich noch nicht daran gewöhnt, ihren Spitznamen professionell zu verwenden.
»Und was bringt Sie heute zu uns, Kathähkitty?«, fragte er und imitierte spöttisch ihren Versprecher.
»Berufspraktikum«, log Kitty mit süßer Stimme und aus keinem anderen Grund, als um ihn zu ärgern.
»Für die ewige Studentin vermutlich«, konterte er. Offensichtlich glaubte er ihr kein Wort.
Eva lächelte und schüttelte belustigt den Kopf über den Schlagabtausch der beiden.
Nigel führte sie in den Warteraum. »Gedulden Sie sich bitte einen Moment, Mr Webb wird gleich da sein.«
Eva setzte sich, während Kitty im Raum umherwanderte und über alles nachdachte. So viel war sicher – sie waren sehr verschieden. Eva war eher eine Frau, die tat, was man ihr sagte, die Anweisungen befolgte und höflich war. Für Kitty war das ein Ding der Unmöglichkeit, sie hatte immer das Gefühl, dass man ihr etwas vorenthielt, etwas vor ihr versteckte, und sie wollte um jeden Preis herausfinden, was es war. Schon als Kind war sie ungemein neugierig gewesen, hatte versucht, Fassaden zu durchschauen und Geheimnisse aufzudecken, die Menschen nur deshalb hüteten, weil sie selbst glaubten, sie hätten eine Bedeutung, obwohl sie in Wirklichkeit niemanden interessierten. Wenn Kitty auf dem College mit ihren Freunden ausgegangen war, hatte sie sich häufig von den anderen abgesondert und am Ende des Abends neben der Person gesessen, die sie im Raum am interessantesten, schwierigsten und kompliziertesten fand, und den faszinierenden Geschichten gelauscht, die diese zu berichten hatte. Sie spürte außergewöhnliche Menschen und Meinungen auf, sie hörte sich ebenso gern das Alltägliche wie das Phantastische an, und sie glaubte nicht daran, dass das, was an der Oberfläche zu sehen war, notwendigerweise alles war, was es zu entdecken gab. Deshalb hatte sie schon immer den glühenden Wunsch gehabt, zu erforschen, was wirklich unter all den verschiedenen Schichten eines Menschen lag. Diese Faszination und vor allem diese Liebe zu den Menschen brachte sie auch in ihre Artikel für Etcetera ein, und vielleicht hatte sich diese Liebe nicht so leicht auf ihre Reportagen für Thirty Minutes übertragen lassen. Während sie dort arbeitete und Enthüllungsjournalismus betrieb, hatte sich ihre Liebe zu den Menschen in ein Gefühl des Misstrauens verwandelt, in das Bedürfnis, ihnen um jeden Preis zu entlocken, was sie vor ihr verheimlichten, statt davon
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