Hundert Namen: Roman (German Edition)
auszugehen, dass sie sich vor einer Wahrheit schützten, die sie nicht aussprechen konnten, oder eine Geschichte für sich behielten, weil bisher niemand sie ermutigt hatte, sie zu erzählen. Ihr Talent für Gespräche und ihr Einfühlungsvermögen waren zu einem Geschick für Spielchen verkommen. Sie hatte versucht, Leuten Informationen aus der Nase zu ziehen, ohne dass sie es merkten, und diejenigen zum Sprechen zu bringen, die nichts sagen und auch nicht zitiert werden wollten. Auf einmal ging sie ihre Geschichten völlig anders an.
Diese plötzliche Selbsterkenntnis brachte sie zum Innehalten. Vielleicht hatte Steve ja recht gehabt. Steve, ihr langjähriger Freund, mit dem sie nur selten ein ernsthaftes Gespräch geführt hatte, wusste womöglich mehr über sie als sie selbst. Auf einmal bekam sie eine Gänsehaut und schaute sich irritiert um, was sie verursacht hatte.
Erst in diesem Moment merkte sie, dass Eva sie beobachtete, wie sie im Zimmer umherging und über die Gemälde an den Wänden, in Wirklichkeit jedoch über sich selbst sinnierte, und Kitty empfand ihren prüfenden Blick als extrem unangenehm. Zu beobachten war doch ihr Job – die Tarnkappe, die einen unsichtbar machte, wenn man andere beobachtete, half ihr, Dinge zu entdecken, Einsichten zu gewinnen –, und nun nahm Eva ihr diese Rolle einfach weg. Für sie als Beobachterin war es nervenzermürbend, unnatürlich und äußerst beunruhigend, selbst beobachtet zu werden. Kurz entschlossen gab sie das Umherwandern auf und ließ sich in einen der Ledersessel fallen.
Kurz darauf öffnete sich die Tür, und George Webb trat herein.
»Hallo«, begrüßte er Eva und Kitty mit einem strahlenden Lächeln, bei dem seine perfekten Zähne blitzten. »Ms Wu, nehme ich an«, wandte er sich an Eva, deren asiatische Wurzeln dank der langen, seidig-dichten, im Licht fast blauschwarzen Haare nicht schwer zu erraten waren. Ihr Teint war makellos, und auch fast ungeschminkt war sie umwerfend hübsch.
»Na ja, ich bin es jedenfalls nicht«, scherzte Kitty.
»Das ist Kathähkitty Logan«, stellte Nigel sie vor. »Sie ist Journalistin bei Etcetera .« Dabei sah er Kitty mit hochgezogenen Augenbrauen an, und sie hatte das Gefühl, dass er noch einmal deutlich machen wollte, dass er sich von ihr ganz bestimmt nicht unterbuttern ließ.
George Webb sah ein wenig verwirrt drein.
»Das ist eine Zeitschrift«, erklärte Nigel. »Allerdings keine, die Sie lesen würden.«
»Aber Sie schon, Nigel«, sagte Kitty und lächelte.
»Nein. Ich hab Sie nur gegoogelt.«
Kitty lachte. »Ich schreibe einen Beitrag über Ms Wu«, erklärte sie dann. »Aber machen Sie sich bitte keine Sorgen, es geht wirklich nur um sie, nicht um ihre Klienten, ich nenne keine Namen, ich möchte nur einfach einen Eindruck davon gewinnen, wie sie arbeitet.« Wenn es in Constances Artikel wirklich darum gehen sollte, wie Eva arbeitete, und nicht womöglich um etwas ganz anderes. Obwohl Kitty immer noch keine Ahnung hatte, versuchte sie selbstbewusst und zuversichtlich zu klingen.
George Webb dachte nach. »Na gut«, sagte er schließlich. »Klingt okay für mich. Sie sind eine populäre Frau«, fügte er hinzu, setzte sich Eva gegenüber und musterte sie aufmerksam.
George war ein bemerkenswerter Mann, extrem attraktiv, auf moderne Art männlich gepflegt – offensichtlich ließ er sich nicht nur die Augenbrauen zupfen und die Nasenhaare entfernen, sondern achtete überhaupt ohne falsche Scham auf seine äußere Erscheinung. Auch er trug einen eleganten Anzug, nichts Abgehobenes, aber modisch und hervorragend geschnitten. Eva sah ihn an, und man merkte, dass sie sehr von ihm angetan war, genau wie er von ihr – die gegenseitige Anziehung war offensichtlich. Von Kitty nahmen sie kaum Notiz, und das war ihr bei der Arbeit immer sehr recht. Was sie hier vor sich hatte, war vielversprechend.
»Ich habe von Nigel Ihre Daten bekommen«, erklärte George. »Er hat mir gesagt, dass Sie die Beste in Ihrer Branche sind.«
Nigel, der gerade für alle einen Kaffee kochte, warf den beiden einen verärgerten Blick zu. Anscheinend war es ihm unangenehm, dass Kitty nun wusste, dass er das Ganze arrangiert hatte, wo er eben noch so unterhaltsam frech gewesen war.
»Ach, das ist aber sehr nett von Nigel«, sagte Eva freundlich und ehrlich gerührt.
»Ich glaube auch, dass Sie mal mit einer Nachbarin von mir gearbeitet haben, meiner Nachbarin hier bei der Arbeit, meine ich. Elizabeth Toomey?«, fuhr
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