Hundert Namen: Roman (German Edition)
was ihr Tempo deutlich verlangsamte, und der Mann gewann sofort wieder einen Vorsprung. Aber dann hatte sie die Karte gefunden und nahm zwei oder drei Stufen auf einmal, um ihn wieder einzuholen.
Aber er nahm ihre Karte nicht. »Ich rede nicht mit Journalisten«, sagte er. Inzwischen war er unten angekommen und entfernte sich von dem Wohnblock.
Argwöhnisch beäugte Kitty die Kids bei ihrem Fahrrad, entschied sich aber doch dafür, Archie zu folgen.
»Woher wussten Sie, dass ich Journalistin bin?«
Er musterte sie vom Scheitel bis zur Sohle, als würde das ihre Frage beantworten. »Sie sehen so verzweifelt aus.«
Sie war nur leicht beleidigt, denn so, wie sie ihm nachgejagt war, hatte er ja irgendwie recht.
»Sie haben eine Nachricht auf meinem Anrufbeantworter hinterlassen.«
»Ja.«
»Rufen Sie mich nie wieder an.«
Als sie zur Straßenecke kamen, hielt er abrupt inne, bog scharf nach links ab und verschwand in einem Fish-and-Chips-Laden. Kitty musste ein paar Schritte zurückgehen und beobachtete durchs Fenster, wie er die Absperrung vor dem Tresen hochklappte, seine Jacke auszog und im hinteren Teil des Ladens verschwand. Ein Mann wartete vor dem Tresen, und sie warf einen Blick auf das Schild über dem Fenster. Nicos. Dann tauchte Archie wieder auf, eine weiße Kappe auf dem Kopf, um den Bauch eine weiße Schürze. Sein Kollege informierte ihn über die anstehenden Bestellungen und ließ ihn dann allein. Kitty drückte die Tür auf.
»Man könnte Sie jederzeit wegen Stalking anzeigen«, sagte Archie, ohne aufzuschauen.
Eine Anzeige wegen Stalking hätte gut zu ihren sonstigen Problemen gepasst.
Der andere Kunde starrte sie an.
»Ich hätte gerne einmal Pommes«, bestellte sie rasch.
Archie hörte auf, Pommes einzufüllen, und sah Kitty an. Allerdings hätte sie nicht sagen können, ob er beeindruckt war oder ob er ihr gern heißes Öl über den Kopf geschüttet hätte. Es sah aus wie eine Gratwanderung. Aber dann versenkte er den Drahtkorb mit den gefrorenen Pommes im blubbernden Frittierfett. Kitty überlegte kurz, ob sie warten sollte, bis sie allein mit Archie war, entschied sich aber dagegen. Sie brauchte keine journalistischen Superkräfte, um zu wissen, dass das hier ihre einzige Chance mit Archie war.
»Ich werde meine Karte hierlassen«, sagte sie und legte die Karte auf den Tresen.
Archie warf einen kurzen Blick darauf und arbeitete dann weiter, bereitete einen Burger und eine Portion Pommes zu, packte alles in eine Tüte, nahm an der Kasse das Geld entgegen, und der Kunde verschwand.
»Ich habe nie darüber gesprochen. Damals nicht, und ich hab auch nicht vor, es jemals zu tun. Daran hat sich nichts geändert.«
Allem Anschein nach fehlte Kitty hier eine entscheidende Information. »Ich weiß nicht, wofür Sie mich genau halten, aber …«
»Sie sind Journalistin, richtig?«
»Ja.«
»Ihr seid doch alle gleich.«
»Ich werde Sie bestimmt nicht nötigen, über Dinge zu sprechen, über die Sie nicht sprechen möchten.«
»Das hab ich auch schon mal gehört.«
Er schaufelte ihre Pommes in eine kleine weiße Papiertüte, steckte die Tüte dann in eine größere braune Tüte und gab noch ein paar Pommes extra darauf.
»Hören Sie, ich will ehrlich mit Ihnen sein«, erklärte Kitty. »Ich habe keine Ahnung, wovon Sie reden, und auch nicht, worüber Sie nicht reden wollen. Ich hab keine Ahnung, wer Sie sind. Ich habe Sie auf einer Liste mit hundert Namen gefunden, die ich alle interviewen und über die ich einen Artikel schreiben soll. Ich kenne Sie genauso wenig wie die anderen neunundneunzig Leute, und ich weiß auch noch nicht, was für eine Geschichte das Ganze werden soll. Ich bitte Sie um weiter nichts als um etwa dreißig Minuten Ihrer Zeit, egal, wann, morgens, mittags, abends, ganz wie Sie möchten, dreißig Minuten, in denen wir miteinander reden. Kann sein, dass es überhaupt nicht um das geht, was Sie vermuten, oder vielleicht doch, und wenn Sie nicht wollen, dass ich darüber schreibe, dann werde ich auch nicht darüber schreiben, aber ich schwöre Ihnen, dass ich eine ehrliche Journalistin bin und mein Wort halten werde.«
Mehr als alles andere wollte Kitty das Richtige tun – für Constance ebenso wie für sich selbst.
Archie schien sich über ihren Vortrag zu amüsieren, zumindest wirkte er nicht mehr bedrohlich und einschüchternd. Kitty schätzte ihn auf Ende fünfzig, vielleicht auch schon sechzig, obwohl er vielleicht auch jünger war und nur vom vielen Stress
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