Hundert Namen: Roman (German Edition)
älter wirkte. Denn gestresst war er definitiv, der Stress quoll ihm buchstäblich aus allen Poren. Seine Haare waren vollständig ergraut, seine Haut sah rot, trocken und ungesund aus, er schien übergewichtig zu sein, aber seine Arme unter dem T-Shirt waren muskulös. Für Kitty war er die Verkörperung von stressigem Leben, ungesundem Essen und nicht genügend Schlaf. Unwillkürlich fragte sie sich, wie weit sie selbst wohl noch von diesem abgewrackten Zustand entfernt war. Aber sie wurde nicht richtig schlau aus Archie Hamilton. Schließlich sah er sie an, und zu ihrer großen Erleichterung stellte sie fest, dass ihre Worte anscheinend doch etwas bewirkt hatten.
»Salz und Essig?«, fragte er, und sie seufzte.
»Ja, bitte.«
Er ersäufte die Pommes in Essig, faltete die Tüte oben zusammen und stellte das triefende Etwas direkt auf ihre Visitenkarte.
»Zwei siebzig.«
Sie zahlte, und es fiel ihr nichts mehr zu sagen ein. Also nahm sie die Pommes, ließ die essigdurchweichte Karte aber auf dem Tresen liegen. Wenigstens hatte sie jetzt ein Abendessen. Als sie um die Ecke bog und den Wohnblock erreichte, war ihr Fahrrad nirgends zu sehen, und auch die Kids waren verschwunden.
Kitty stand unten an der Treppe zu ihrem Apartment und schaute in die Dunkelheit hinauf. Ihr graute bei der Vorstellung, was sie heute dort erwarten würde.
»Kitty? Kitty Logan, bist du das?«
Sie wirbelte herum. In der Reinigung stand ein Mann und starrte sie mit zusammengekniffenen Augen an, neigte den Kopf erst zur einen, dann zur anderen Seite, als versuchte er, sie einzuordnen. Auch sie musterte ihr Gegenüber eingehend, den eleganten Anzug, den seriösen Haarschnitt und die blitzblanken Schuhe. Das längliche Gesicht und das kräftige Kinn erschienen ihr vertraut, nur die kleine runde Brille war ein neues Detail.
»Richie?«, fragte sie schließlich. »Richie Daly?«
Erleichterung machte sich auf seinem Gesicht breit, und da wusste sie, dass sie richtig getippt hatte. Für gewöhnlich betrat sie die Reinigung nicht, da sie immer damit rechnete, dass der Eigentümer sie aufs Bügelbrett werfen und zu Tode bügeln würde, aber heute machte sie eine Ausnahme und ging beherzt auf den jungen Mann zu.
»Ich wusste, dass du es bist!«, lachte er und breitete die Arme aus. Kitty fiel ihm um den Hals und trat dann einen Schritt zurück, um ihn genauer in Augenschein zu nehmen.
»Mein Gott, du siehst aus wie du, aber total anders«, stellte sie fest und traute ihren Augen kaum.
»Hoffentlich besser«, grinste er. »Die zerrissenen Cordhosen und Turnschuhe waren kein guter Look.«
»Und deine Haare! Alles weg!«
»Über dich könnte ich das Gleiche sagen«, erwiderte er, und Kitty fuhr sich mit der Hand unwillkürlich über ihren Bob. Auf dem College hatten ihr die Haare über den halben Rücken gereicht.
»Wenn man uns so hört, würde man denken, wir haben uns seit fünfzig Jahren nicht mehr gesehen«, lachte sie.
»Na ja, zwölf Jahre ist auch ganz schön lange.«
»Sind es tatsächlich zwölf Jahre? Ach du Schreck. Aber was machst du überhaupt hier?«
Er deutete auf seine Umgebung. »Äh … ich muss was reinigen lassen.«
»Klar!« Sie verdrehte die Augen.
Ihr Vermieter räusperte sich demonstrativ und glotzte, als wollte er sie beide umbringen.
»Ich wohne oben drüber, möchtest du vielleicht … ich meine, hast du Lust auf einen Kaffee oder so?« Sie hatte den Satz noch nicht halb zu Ende gesprochen, als ihr klarwurde, dass womöglich eine Ehefrau und zwei Komma vier Kinder in einem vor der Reinigung geparkten Auto auf ihn warteten und sich fragten, warum Daddy eine wildfremde Frau umarmte. Verlegen spähte sie nach draußen.
»Einen Kaffee?«, fragte er entsetzt. »Lass uns lieber was Richtiges trinken.«
So gingen sie in Smyths Pub am Fairview-Strand, wo es am Freitagabend um sieben ziemlich voll war. Trotzdem fanden sie einen Tisch mit zwei Hockern, teilten sich Kittys Pommes und schwelgten in Erinnerungen an die guten alten Zeiten.
»Und was machst du zurzeit?«, fragte Kitty, nachdem sie ihm von ihrem beruflichen Werdegang nach dem College erzählt hatte – wobei sie natürlich das Debakel mit Colin Murphy unerwähnt ließ. Obwohl sie fest davon ausging, dass er genauso wie der Rest der Welt längst darüber Bescheid wusste, war er höflich genug, das Thema nicht anzuschneiden.
»Was ich mache?« Er schaute in sein Pint. Es war bereits sein viertes, und Kitty fühlte sich nach ihrem vierten Glas Wein
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