Hundert Namen: Roman (German Edition)
mit einem lohnenden Ziel, etwa um an den Strand oder in einen Park zu fahren. In den am Meer gelegenen Orten tummelten sich die Sonnenanbeter, lange Menschenschlangen standen vor den Eisdielen, und jedes Restaurant oder Café, das im Freien Platz für einen Stuhl hatte, gehörte zu den beliebtesten Orten des Tages. Doch statt sich den Leuten am Strand, auf der Wiese oder sonst wo im Freien mit einem Frappacino anzuschließen, saß Kitty in den Klamotten vom Vortag in einem müffelnden Taxi, und wenn sie die Arme hob, strömte ein leichter Schweißgeruch unter ihren Achseln hervor. Also rührte sie sich so wenig wie möglich und versuchte, den vollaufgedrehten Fußballkommentar im Radio auszublenden, während das Taxi in Höchstgeschwindigkeit die M 50 entlangbretterte. Sie musste sich anstrengen, im hellen Sonnenlicht die Augen offen zu halten, ihr Kopf dröhnte, ihr Mund war wattetrocken, und sie beobachtete mit wachsendem Entsetzen, wie das Taxameter einen so rasant ansteigenden Fahrpreis anzeigte, dass ihr Zweifel an der Legalität des Geräts kamen. Sie las den Standardaufkleber am Fenster, der ihr versicherte, dass sie genau wie jeder andere Fahrgast das Recht auf eine Fahrt in einem sauberen, hygienischen Auto hatte und dass der Fahrer sie nicht belästigen durfte. Leider roch besagter Fahrer, als hätte er sich seit einer Woche nicht mehr gewaschen, sein Auto war völlig verdreckt und das Radio so laut, dass Kitty sich nicht einmal denken hören konnte. Wenigstens redete der Mann nicht mit ihr. Trotzdem notierte sie sich die Telefonnummer des Taxiunternehmens.
Um die Mittagszeit trafen sie bei St. Margaret’s Nursing Home ein – dabei hatte sie Birdie versprochen, zur Fortsetzung ihres Interviews gegen zehn Uhr zu erscheinen. Sie hatte sich die Aufnahme von dem Interview mit Birdie noch einmal angehört und einige tiefer gehende Fragen aufgeschrieben.
»Es tut mir schrecklich leid«, entschuldigte sie sich bei Molly, der ersten Person, die sie sah, als sie den Empfangsbereich betrat.
»Oho«, kicherte Molly und betrachtete Kitty von oben bis unten. »Da hat jemand aber eine gute Nacht hinter sich.«
Kitty lächelte verschämt. »Sehe ich so schlimm aus?«
»Nicht, wenn der Kerl es wert war.« Mit einem vielsagenden Zwinkern kam Molly hinter dem Schreibtisch hervor. Ihre Haare waren immer noch blau, aber heute glänzten ihre Fingernägel in leuchtendem Korallenrot.
»Wird Birdie mich umbringen?«
»Birdie? Die würde keiner Fliege etwas zuleide tun. Es sei denn, es handelt sich bei der Fliege um Freda, die Hippiefrau. Sie ist draußen und hält gerade einen Bewegungskurs. Als ich das letzte Mal hingeschaut habe, mussten alle so tun, als wären sie Blätter.«
»Ich kenne Birdie ja nicht besonders gut, aber ich kann mir nicht vorstellen, dass sie auf so was große Lust hat.«
»Sie kennen Birdie ganz gut, glaube ich. Nein, bei den Blättern macht sie nicht mit, obwohl sie momentan vielleicht gerne eines wäre. Sie ist mit ihrer Familie auf der Wiese. Schauen Sie mich nicht so an, Sie stören nicht, Birdie wird sich freuen, Sie zu sehen!«
Kitty folgte Molly auf die Wiese hinaus, wo mehrere Familien sich zu Tee und Scones versammelt hatten. Sonnenschirme waren aufgespannt, und unter einem davon fand Kitty auch Birdie, umlagert vom Rest ihrer Familie. Alles plauderte, Kinder rannten herum, Teenager drückten sich gezielt am Rand des Geschehens herum, spielten mit ihren iPhones oder hörten Musik auf dem iPod und wären wahrscheinlich am liebsten anderswo gewesen.
Als Kitty auf Birdies Familie zuging, fiel ihr sofort auf, dass Birdie selbst seltsam unbeteiligt wirkte. Das Gespräch plätscherte um sie herum, aber es bezog sie nicht oder bestenfalls ansatzweise mit ein. Gelegentlich sagte jemand ein paar Worte direkt zu ihr, und sie tauchte für einen Moment aus ihrer Trance auf, lächelte und nickte, aber sobald es möglich war, driftete sie wieder weg.
»Tut mir leid, Sie zu unterbrechen«, rief Molly fröhlich. »Aber Sie haben Besuch, Birdie.«
Alle blickten auf und starrten Kitty an, die in die Runde grüßte und dann rasch zu Birdie hinüberging. »Birdie, es tut mir wirklich sehr leid, dass ich zu spät komme«, entschuldigte sie sich.
»Macht doch nichts«, antwortete Birdie, und Kitty sah ihr an, dass sie sich ehrlich freute. Dann stand die alte Frau auf, nahm Kittys Hand und stellte sie ihrer Familie vor.
»Das ist Kitty Logan, eine Freundin von mir. Kitty, das ist Caroline, meine
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