Hundert Namen: Roman (German Edition)
war. Wie naiv diese junge Frau damals gewesen war! Wie naiv sich diese junge Frau noch vor zwei Tagen benommen hatte, als sie von ihrem Studienfreund aufs Kreuz gelegt worden war! Völlig planlos hüpften Kittys Augen über die Worte, und sie war kaum imstande, einen zusammenhängenden Satz zu lesen, geschweige denn zu begreifen. Hilflos wanderte sie von einer Zwischenüberschrift zur anderen, wo es von abgeschmackten Adjektiven wie »erschüttert«, »entsetzt« und Ähnlichem nur so wimmelte, und weiter bis zum Passfoto des Journalisten, der diesen Exklusivbericht verbrochen hatte und genauso schmierig und unangenehm aussah, wie sie sich an ihn und seinen widerwärtigen nackten Körper vom letzten Morgen erinnerte. Richard Daly.
Es ist anzunehmen, dass Colin Murphy und seine Unterstützergruppe hinter den fiesen Attacken stecken, denen Katherine in letzter Zeit wiederholt ausgesetzt war. Katherine oder Kitty, wie ihre Freunde sie nennen, ist das Opfer einer Schmutzkampagne, der Sender hat sie suspendiert, man hat sie verstoßen in einer Zeit, wo sie Unterstützung am dringendsten nötig hätte.
Unter einem hübschen Porträt von ihr stand: Der Sündenbock.
Inzwischen hat nun auch das Magazin Etcetera die junge Journalistin suspendiert, obwohl die Angelegenheit nichts mit der Zeitschrift zu tun hatte. Möglicherweise auf Druck von Murphys Leuten ziehen Werbekunden ihre Anzeigen für die Zeitschrift in diesen unsicheren Zeiten zurück, unter dem Vorwand, sich gegen solch minderwertigen und schlampigen Journalismus zur Wehr setzen zu müssen .
Trotz allem beteuert Ms Logan, derzeit mit dem »aufregendsten Projekt ihres Lebens« beschäftigt zu sein. Allerdings wollte sie nicht näher erläutern, worum es sich handelt, was bei ihren Bekannten Spekulationen darüber auslöst, ob dieses Projekt in der Realität überhaupt existiert.
Unter dem Artikel war das Ergebnis einer Abstimmung abgedruckt, in der es darum ging, ob Katherine Logan es verdient hatte, beschimpft, beleidigt und attackiert zu werden. Zweiundsiebzig Prozent der Befragten hatten mit ja geantwortet, achtzehn Prozent mit nein, zehn Prozent standen der Frage gleichgültig gegenüber.
Kitty kniff die Augen zusammen und starrte wieder auf das Foto mit Richies unsympathischem Gesicht. Was sie ihm antun wollte, war so gewalttätig, dass sie selbst darüber erschrak.
»Du schreibst ein Buch, von wegen, du verdammtes Arschloch«, sagte sie laut, bevor ihr wieder einfiel, dass sie nicht allein war.
Als sie aufblickte, sah sie, dass das Paar sie noch immer musterte und allem Anschein nach sowohl von ihrer Wortwahl als auch von ihrer Anwesenheit etwas angewidert war. Hastig legte sie die Zeitung auf den Tisch zurück und verließ das Haus.
»Hey, ist das nicht sie auf dem Bild hier?«, hörte sie Alice fragen, kurz bevor die Tür hinter ihr ins Schloss fiel.
Und dann passierte Kitty etwas Gutes, die erste gute Erfahrung dieses Tages, aber manchmal reicht ja eine einzige.
Archie Hamilton rief sie an.
Kapitel 14
Sie trafen sich im Brick Alley Café, einem charmanten Café in Temple Bar. Es schien das einzige Lokal in der ganzen Essex Street zu sein, das weder ein Pub noch eine Sportsbar und auch nicht mit einem Kleeblatt oder einem Leprachaun geschmückt war – Irlands Version der Touristenfalle. Das Brick Alley war ein schlichtes, nettes Café mit freundlichem Personal, und Kitty entdeckte Archie sofort an einem kleinen Tisch ganz hinten. Da er der erste Gast des Tages war, hatte er keine Schwierigkeiten gehabt, einen Platz für sich allein zu finden, doch später am Tag scharten sich die Gäste meist um die langen gemeinschaftlichen Holztische. Als sie hereinkam, blickte Archie auf, warf ihr einen leicht amüsierten Blick zu und schaute dann wieder in seine Zeitung. Wenn möglich, machte er einen noch gestressteren Eindruck als am Vortag, aber nach zwei Nächten mit sehr wenig Schlaf wollte Kitty auch lieber nicht wissen, wie sie selbst aussah. Nachdem sie Richie rekordverdächtige sechzehnmal anzurufen versucht hatte, war sie sofort drangegangen, als ihr Handy klingelte. Und zum Glück war es Archie gewesen.
Sie setzte sich neben ihn auf einen hohen Hocker an den Tisch, der eigentlich nur ein an der Wand befestigtes Holzbrett war. Darüber hing eine Tafel mit den Spezialitäten des Tages, und darüber stand: Jeder Tisch hat eine Geschichte zu erzählen. Kitty wusste, dass das ganz sicher auf diesen Tisch zutraf, und hoffte, dass Archie ihr diese
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