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Hundert Tage: Roman (German Edition)

Hundert Tage: Roman (German Edition)

Titel: Hundert Tage: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lukas Bärfuss
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musste, weil es anders undenkbar war, dass sich menschliche Zellen, dieser formlose Glibber, zu etwas von dieser Anmut und Sanftheit formen konnte. Sie lag da, hingefläzt in mein Staunen, sie präsentierte die Vollendung ihrer Fesseln, die bromfarbene Kniekehle, den Übergang von der hellen Innenseite zum trockenen Braun des Handrückens, die Zehen, diese fröhlichen Kobolde mit den leuchtend roten Gesichtern, die pflaumenblau schimmernden Nägel. Ich ging auf in diesen Momenten, ich war so gegenwärtig, dass ich mir nichts einprägen konnte, keine Einzelheiten, dass nur das Gefühl dabei überdauerte, ein nicht durch und durch angenehmes, eines, das durchsetzt war von der Vergänglichkeit, von der Furcht, nur diese Momente zu haben, die Stunden mit Agathe auf dem Sofa, die Abende auf der Veranda; und alles, was ich in jenen Momenten nicht zu fassen kriegte, mir nicht einverleiben konnte, würde verloren sein, nur gelebt, um eine Erinnerung zu werden.
    Paul nahm den Krieg persönlich; für ihn war es, als griffen die Rebellen ihn an, seine Arbeit, die nicht nur die Arbeit von sechs Jahren war, seit er nach Kigali gekommen war, sondern die Arbeit der letzten dreißig Jahre. Er wurde noch dünner, als er ohnehin war, schweigsam, sträubte sich, wenn er ins Feld fahren sollte, wo die Projekte mit immer mehr Schwierigkeiten zu kämpfen hatten. Tagelang vergrub er sich in seinem Büro, und wenn ich jetzt manchmal nach ihm schaute, fand ich ihn selten bei der Arbeit, sondern aufrecht an seinem Schreibtisch sitzend, und ich erschrak, wenn er mich unvermittelt anschaute, mit einem verwundeten und anklagenden Blick, als sei ich verantwortlich für das Unrecht, das man ihm antat. Bei den Besprechungen schwieg er, er schmollte sogar und machte keine Vorschläge, was für die Direktion zu tun sei. Oft schickte mich Marianne nach ein paar Minuten aus dem Raum, und ich hörte dann durch die Tür, wie sie ihm gut zuredete.
    Man konnte sicher sein, dass er seinen Posten bald räumen würde, und als er mit seiner Familie in den Weihnachtsurlaub nach Hause reiste, um sich zwei Wochen beim Skilaufen zu erholen, da glaubte ich nicht, dass er zurückkehren würde. Doch im neuen Jahr war er wieder da, braungebrannt, das heißt, eigentlich rotgebrannt, mit einem glänzenden Gesicht. Er verschwand beinahe in seinen fahnenhaften Hemden, wenn er seinen Kopf in den enormen Hemdkragen verzog, wie eine Schildkröte ihr Haupt in den Panzer zurückzieht. Aber es war doch etwas mit ihm geschehen, die stumme Beleidigung hatte sich in einen wortkargen Trotz verwandelt, und erst nach und nach schien seine Entschlossenheit zurückzukehren. Einmal, als ich mit ihm in Kigali unterwegs war, überholte uns eine Patrouille französischer Fallschirmjäger, und als der Jeep auf unserer Höhe war, rief Paul
Vive la France! Vive la république
, und er rief es so laut und mit Inbrunst, dass ich erschrak und Passanten sich nach uns umdrehten. Die Fallschirmjäger, versteckt hinter ihren Sonnenbrillen, zeigten keine Reaktion und fuhren weiter, und ich wusste nicht, welche Republik Paul gemeint hatte, die französische oder diese hier, es war nur klar, auf welche Seite er sich gestellt hatte, nämlich auf die Seite des Präsidenten, des Generalmajors, auf die Seite der vormaligen Zustände, zu deren Verteidigung die Franzosen ins Land gekommen waren.
    Paul traf sich oft mit Jeannot, der nach wie vor unverbrüchlich zu seinem Präsidenten hielt. Der verlangte von uns, die Direktion solle eine öffentliche Solidaritätsnote für den Präsidenten verfassen. Schließlich sei Hab der Einzige, der für Sicherheit und Stabilität sorgen könne. Marianne fand, es sei zu früh, sich für eine Seite zu entscheiden, nur Paul unterstützte die Idee, und er fühlte sich verraten, als das Begehren abgelehnt wurde. Gerade jetzt, in diesen unruhigen, chaotischen Zeiten, müsse man seine Position deutlich machen. Nur widerwillig und unter Zwang besuchte er die überfüllten Gefängnisse, um den Verhafteten beizustehen. Für ihn war überhaupt nicht ausgemacht, dass diese Leute unschuldig waren. Was weiß ich, was diese Leute angestellt haben, ganz ohne Grund werden sie bestimmt nicht hier sitzen. Immerhin herrscht Krieg, nicht wahr, ein Krieg, der dem Land aufgezwungen wurde. Ein Staat hat das Recht, nein, er hat die Pflicht, sich zu verteidigen, und besondere Situationen bedürfen nun einmal besonderer Maßnahmen. Er wies darauf hin, dass in diesem Land Friede geherrscht habe,

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