Hundertundeine Nacht
war ich schon auf dem Weg zurück in Richtung Berlin, als mir plötzlich einfiel, daß ich mit Berlin-Hamburg vielleicht genau in die richtige Richtung gefahren war: Enge!
Enge in Schleswig-Holstein, rund zehn Kilometer vor Niebüll, etwas rechts von der B 5. Vor Jahren hatte Celine mal von dem kleinen Ferienhaus ihrer Tante dort erzählt, das fast das ganze Jahr leer stünde, aber bisher hatten wir es noch nie dorthin geschafft. Ich wendete und fuhr wieder nach Norden.
Enge stellte sich als übersichtliches Dorf heraus: ein Kaufmann, zugleich Postfiliale, ein Gasthof für Heirat und Leichenschmaus, eine Kirche, Gottesdienst nur alle vierzehn Tage. Kein Kriegerdenkmal. Vorsichtig fuhr ich am späten Nachmittag in den Ort ein, aber die Zeiten mit fröhlich auf der Dorfstraße spazierenden Enten war auch hier lange vorbei. Von links schnitt mich ein Motorrad in Schumi-Tempo, von rechts donnerte ein riesiger Traktor heran.
Ich traf Celine beim Kaufmann, wo ich mich nach dem Haus ihrer Tante erkundigen wollte. Einen Moment schien es, als wolle sie weglaufen. Dann aber hatte sie sich anders entschieden.
»Du kannst auf einen Kaffee mitkommen. Und«, sie war etwas näher gekommen, »auf eine Dusche. Aber danach möchte ich, daß du wieder fährst.«
Eine halbe Stunde später hatte ich geduscht, und wir saßen in der gemütlichen Ferienhausküche, umgeben von getrockneten Blumen und allerlei antikem Küchengerät. Vom nahen Frühling kündeten die Kohlmeisen, bis zur Rückkehr der Schwalben und Co. unbestrittene Herrscher im Garten, und die Traktoren-Rallye auf der Dorfstraße. Celine trank ein Mineralwasser, ich hatte mir ein Flensburger Pilsner vom Kaufmann mitgenommen.
Obgleich noch nicht einmal ganze zwei Tage hier, schien Celine schon deutlich entspannt. Die Augen waren ruhiger, auch ihre übrigen Bewegungen weniger hektisch. Nachdem sie, wie gesagt, Fragen zu ihren Erlebnissen in Kurdistan beziehungsweise im Irak sowohl in Berlin wie im Spreewald höflich ignoriert oder brüsk abgelehnt hatte, kam sie jetzt von selbst darauf zu sprechen.
Während des schwierigen Weges durch Osteuropa in Richtung Türkei waren wir in Kontakt gewesen, auch über das lange Warten an der Grenze zu Kurdistan hatte Celine noch direkt berichtet. In Kurdistan selbst, erzählte sie jetzt, sei alles ziemlich unkompliziert gelaufen, die Leute gastfreundlich und hilfsbereit. Ohne Schwierigkeiten seien sie nach Dahuk gekommen, wo man, bis auf die von Sommer gespendete Trinkwasseraufbereitungsanlage, die Lastwagen vollständig entladen hätte.
»Die kommt morgen dran, haben sie gesagt, und es gab ein großes Fest zu Ehren des Hilfskonvois.«
»Die Wasseraufbereitungsanlage, Celine ...«, versuchte ich einzuwerfen, aber sie ließ sich nicht unterbrechen.
»Alles weitere war dann Zufall, zur falschen Zeit am falschen Ort, zur richtigen Zeit am richtigen Ort, wie du willst. Jedenfalls hatten Heiner und ich nicht annähernd das Stehvermögen unserer Gastgeber. Wir gingen ins Bett, während die noch feierten.«
Ich glaube, ich verzog keine Miene, dennoch konkretisierte Celine.
»Es geht streng zu in Kurdistan, Felix. Wir bekamen getrennte Zimmer. Als ich irgendwann vor Kälte bibbernd aufwachte, war es noch stockdunkel, die Feier aber vorbei. Ich wollte mir noch ein paar Decken aus dem Lastwagen holen, aber dann habe ich mich gleich dort, im Lastwagen, hingelegt, wie nun schon seit Wochen, und bin eingeschlafen. Als ich irgendwann von dem Rumpeln und dem Motorengeräusch aufgewacht bin, habe ich mir erst gar nichts dabei gedacht, weil ich so daran gewöhnt war. Danach war ich eigentlich nur gespannt, wohin es ging.«
»Keine Angst?«
»Doch, natürlich. Aber was waren die Alternativen?«
Ich nickte, auch ich hätte sicher nicht an die Wand zum Fahrerhaus geklopft und damit wer weiß wen auf mich aufmerksam gemacht.
»So saß ich also in diesem Lastwagen und konnte nur abwarten. Ich habe nicht mitbekommen, daß wir die Grenze in den Irak passiert hatten, Autos werden in dieser Gegend sowieso alle paar Kilometer angehalten. Nach ein paar Stunden jedenfalls hatte der Lastwagen sein Ziel erreicht: In einer großen Fabrik wurde die Ladetür geöffnet und ich von ziemlich überraschten irakischen Soldaten entdeckt. Die Fabrik hatte offensichtlich nichts mit der Herstellung von Trinkwasser zu tun, überall Chemikalien, Totenköpfe und Techniker in Schutzanzügen. Erst da war mir klar, daß wir keine
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