Hundertundeine Nacht
dessen um den bedrohlich angewachsenen Papierkram auf meinem Schreibtisch gekümmert. Es ging um das Übliche: Die Krankenkassen schrieben, daß wir bei diesem und jenem Patienten die für die Einweisungsdiagnose vorgesehene Behandlungszeit überschritten hätten, und warum bitteschön? Die Vital-Zentrale listete auf, bei welchen Leuten wir die Behandlungskosten pro Tag überschritten hätten, und warum bitteschön? Meine Versicherung schrieb, daß die Beiträge für meine Arzthaftpflicht überfällig seien und zur Zeit vertragsgemäß somit kein Versicherungsschutz bestünde. Das Letzte war dringlich, wurde gleich erledigt, mit dem Übrigen hätte ich ohne ärztliche Tätigkeit problemlos den restlichen Arbeitstag verbringen können.
Es hatte geklopft, Schwester Käthe steckte den Kopf durch die Tür.
»Dr. Hoffmann! Der Herr Chefarzt läßt fragen, warum Sie nicht bei der Chefvisite sind.«
Natürlich nahm auch Käthe an, ich sei informiert. War ich aber nicht.
Ein ganzes Wochenende voll erschöpfender Inaktivität hatte ich über Celine und mich nachgedacht, ihr schließlich eine lange E-Mail geschrieben, die Klinik komplett aus meinen Gedanken gestrichen. Beate hatte wiederholt auf meinem Anrufbeantworter dringend um Rückruf gebeten.
Ich stand auf und folgte Käthe. Plötzlich wußte ich, wen, ich gleich sehen würde. Und tatsächlich! Die Visite war in vollem Gang, stumm schloß ich mich an.
»Kollege Hoffmann! Freundlich von Ihnen, uns ein wenig Ihrer kostbaren Zeit zu opfern!« begrüßte mich nach zwei weiteren Patientenzimmern Dr. Zentis, selbsternannter Spezialist für terroristische Pestanschläge, erschlichener Facharzt für Innere Medizin und neuer Chefarzt der Abteilung.
Ich folgte der Visite weiter kommentarlos, nach zwei Wochen Urlaub hatte ich ohnehin nichts Wesentliches beizutragen. Aufmerksam hörte ich zu, was die Stationsärzte über die Patienten zu berichten hatten, und erst recht, was die Patienten selbst erzählten. Unsere Ärztetruppe hatte während meiner Abwesenheit Verstärkung erfahren, einen weiteren Gastarzt, offenbar auch aus dem arabischen Raum. Vorgestellt wurde er mir nicht.
Nach der Visite gab es noch einige Probleme an der künstlichen Niere zu regeln, zu denen Dr. Hassan meinen Rat wollte.
»Unser neuer Gastarzt, woher kommt der, Dr. Hassan?«
»Ein Landsmann, aus dem Irak.«
Das verwunderte mich, denn während über zwei Stunden Visite hatten die beiden kein Wort gewechselt. Dr. Hassan allerdings erklärte sich nicht näher zu seinem Landsmann, sondern hatte eine Frage an mich.
»Sie kennen unseren neuen Chefarzt?«
Das konnte man wohl sagen! Und daß ich Freund Zentis gewaltig unterschätzt hatte. Zentis war früher Zehnkämpfer gewesen, mit ganz ansehnlichen Leistungen auf Kreisklassenniveau. Zehnkämpfer lernen Ausdauer, lernen, sich ihre Kräfte in den verschiedenen Disziplinen einzuteilen, lernen Taktik und lernen das Wichtigste: daß der Punktestand erst am Ende abgerechnet wird.
Mit diesen Qualitäten hatte er es nun erreicht, Chefarzt an der Klinik zu werden, die ihn vor Jahren wegen medizinischer Unfähigkeit hinausgeworfen hatte! Ich wäre hellhörig geworden, hätte er neulich ein wissenschaftliches Symposium veranstaltet, einen kleinen Kongreß zu einem begrenzten Thema. Das ist das übliche Vorgehen, will man auf sich für eine Chefarztposition aufmerksam machen. Aber die Variante mit dem angenommenen Terroranschlag war nicht nur neu, sie war fast genial, sicherte sie ihm doch nicht nur die Aufmerksamkeit der Mediziner, sondern auch die der Politik und der Medien.
Mein kleiner Beitrag zu seiner Pressekonferenz hatte ihm offensichtlich nicht geschadet. Einsehbar, denn die Zusammenhänge waren für den Laien viel zu kompliziert. Dr. Hassan stand noch immer vor mir, ach ja, seine Frage.
»Ja, ich kenne Dr. Zentis. Er hat früher hier gearbeitet. Ich denke, er ist eine gute Wahl. Als ehemaliger Arzt beim medizinischen Dienst der Krankenkassen hat er beste Kontakte dorthin, kann uns eine Menge Ärger aus dieser Ecke vom Hals halten. Das Gleiche gilt für die Innen- und die Gesundheitsverwaltung. Dr. Zentis kennt sich mit Gremienarbeit aus, das ist heutzutage entscheidend.«
»Und medizinisch?«
Während der Visite hatten Dr. Hassan und die anderen Kollegen immer mal wieder zu mir geschaut, ob ich Zentis' medizinischer Inkompetenz nicht widersprechen, unsinnige Anweisungen nicht korrigieren würde.
»Wissen Sie, Dr. Hassan, zum
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