Hundsköpfe - Roman
du sie nicht wenigstens mal anrufen und mit ihr reden?«
»Was?« stöhnte ich, weil ich es nicht gewohnt war, gleich zweimal in einer Woche von meiner großen Schwester geweckt zu werden.
»Ich dachte … könntest du nicht für eine gewisse Zeit nach Hause kommen? Das Finanzielle werden Jesper und ich schon regeln, du kannst das Gästezimmer haben. Wenn du mit Bjørk redest, wird sie schon wieder Vernunft annehmen.«
»Ich werde darüber nachdenken«, erwiderte ich und legte auf.
Wie gesagt, bereits einige Monate bevor Stinne mit ihrer Telephonoffensive begann, hatte Bjørk angefangen, mir mystische Botschaften zu übermitteln. Entschuldigung, aber ich kann mich auf dänisch nicht so gut ausdrücken , schrieb sie mir als erstes, obwohl sie bereits vierzig Jahre in Dänemark wohnte. Anfangs hatte ich kein sonderlich großes Interesse an ihren Briefen und Postkarten, die tagelang auf dem Küchentisch herumlagen, bis ich mich aufraffte und sie las, ebenso wie die Briefe meiner Mutter. Und als ich endlich damit begann, war ich überrascht über den verwirrten Eindruck, den Bjørk machte. Manchmal nannte sie mich Askild, dann wieder Knut, Niels oder Thor. Ich stellte fest, daß sie immer wieder auf die Geschichte zurückkam, wie mein Großvater über diese Ebene in Ostdeutschland lief.
Kaum hatte ich den Hörer aufgelegt, dachte ich daran, wie wir Großvater damals mit Signes Pisse beinahe umgebracht hätten, und eine plötzliche Eingebung ließ mich Stinnes Nummer wählen.
»Du noch mal?« sagte sie. »Du rufst an, um mir zu sagen, daß du nicht kommst. Sag es nicht, Asger.«
»Nein«, antwortete ich, »ich wollte nur …«
»Bjørk ist krank!« brüllte Stinne. »Willst du deine Großmutter nicht noch einmal sehen, bevor sie stirbt? Ihr Herz macht es nicht mehr lange. Wie deutlich soll ich es dir denn noch sagen? Soll ich es dir buchstabieren? Sie wird bald T–O–T sein, Asger, du kommst jetzt nach Hause und übernimmst deinen Teil der Arbeit. Ich will nicht für alles allein verantwortlich sein, so wie beim letzten Mal.«
»Etwas mit dem Herzen?« fragte ich leise. Davon hatte Großmutter nie geschrieben. Ich wußte nicht, was ich sagen sollte, und einen Moment lang gab es nur dieses Sausen im Hörer, dann bedauerte Stinne ihre Strategie.
»Entschuldige, aber willst du wirklich nicht nach Hause kommen und mit ihr reden? Wir vermissen dich, Schnuddelchen …«
»Schnuddelchen?«
»Ich vermisse meinen Bruder, was ist denn daran so falsch?« brüllte sie in den Hörer und wechselte dann erneut die Tonlage. »Jesper kann das Sofa haben, dann kannst du bei mir im Bett schlafen, wie damals«, flüsterte sie und grinste. »Komm nach Hause, du alter Lumpenhund …«
Ich bin auf dem Weg nach Hause. Erst allmählich wurde mir bewußt, daß Großmutter uns verlassen würde und daß die mystischen Nachrichten ihre Art waren, mich heimzurufen, bevor es zu spät war. Nach dem Gespräch mit Stinne setzte ich mich auf den Küchenfußboden und breitete ihre Postkarten und kurzen Briefe um mich aus. Im Atelier hinter mir leuchteten meine leeren Gemälde. Ich hätte die Warnsignale beachten sollen. Die leeren Gemälde schwatzten und machten mich besonders empfänglich für den ständigen Druck der Geschichten. Auf dem Küchenfußboden, um mich herum, lagen die Bruchstücke unserer Geschichte, abgerissene Episoden, die allesamt Züge der verwirrten Gedanken einer alten Frau trugen, Anekdoten, in denen die Namen der Hauptpersonen ihre Plätze miteinander tauschten, Erzählungen, deren Enden an den falschen Stellen standen, und Anfänge, wo definitiv etwas zu Ende war. Und während ich in all diesen Papierfetzen kramte, begann das alte Gefühl des schlechten Gewissens in mir zu wachsen. Seit jenem Sommer, in dem Knut aus Jamaika heimgekehrt war, hatte ich das Gefühl, einen besonderen Anteil an den Unglücksfällen zu haben, die dazu führten, daß unsere Familie allmählich zerfiel und sich in alle Winde zerstreute. Der Gedanke, all das wieder zu sammeln, vor allem aber der Gedanke an Heimkehr und der Zustand, in dem ich Großmutter vorfinden würde, nahm mir jeglichen Mut. Mehrere Tage umkreiste ich das Problem, bis ich heute nachmittag schließlich meine Koffer griff und die Tür meiner Wohnung zuwarf, um den Zug nach Hause zu nehmen, so wie es Stinne entschieden hatte. Ich verließ eine zu Dreivierteln möblierte Zweizimmerwohnung, ein halbes Hundert leerer Leinwände und einen unrealistischen Traum, mich als
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