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Hundstage

Hundstage

Titel: Hundstage Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walter Kempowski
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und «Der Mann mit dem Goldhelm» und im Autoradio ganz leise die «Fünfte» …

    Eine Kontrollschaltung im Fernsehapparat ergab Statistiken über die Zunahme von Ladendiebstahl sowie einen Speiseeisskandal in Spanien: Tausende von Urlaubern wälzten sich qualvoll in ihren Hotelbetten.

    «Ganz Europa ächzt unter einer Hitzewelle.»

    Diese Spanier! An sich ja ganz in Ordnung. Die blaue Division … Nicht so schlapp wie die Italiener. Aber: Jedes Jahr zehntausend Stiere zu Tode quälen und die schönsten Meeresbuchten mit Betonburgen vollbauen?

    Sowtschick ging in die Küche, die aufgeräumt und blankgewischt war. Der große Tisch war an die Wand gerückt, die Kaffeemaschine stand mit umgenudelter Schnur in der Speisekammer, desgleichen der Korb mit den Kartoffeln: durchaus zu begrüßende Neuerungen.

    Um dem Hausgenossen eine Freude zu machen, deckte Sowtschick den Abendbrottisch, und er tat dies äußerst leise, damit er nicht aufgeschreckt werde. Er sortierte Wurst-und Käsescheiben auf verschiedene Teller, polierte Tomaten, schnitt Gurke und deckte mit dem guten Silber, das Marianne aus Angst vor Dieben nicht im Küchenschrank liegen hatte, sondern unterm Dachjuchhe!

    Nachdem alles aufgestellt war, und als auch der Tee bereits, der gute, auf dem Stövchen stand, zündete Sowtschick noch zwei Kerzen an. Dann stieß er an verschiedenen Hängeglöckchen und ging hinauf und klopfte an die Tür des Gästezimmers: Nichts regte sich. Er linste durch das Schlüsselloch und klinkte behutsam auf: leer. Nun, dies war seltsam. Wo mochte der Mann stecken?

    Sowtschick durchsuchte das ganze Haus, schließlich stellte er fest, daß das Motorrad nicht da war. Aha. Da war der Gast also ausgeflogen. Merkwürdig, aber ohne weiteres in Ordnung, schließlich war dieser Mann ein freier Mann, der tun und lassen konnte, was er wollte. Wieso er allerdings das Tor nicht geschlossen hatte, war nicht einzusehen. Nun würde man lange auf die Hunde warten müssen, die sich hoffentlich nicht wieder über die Hühner der Nachbarn hermachten wie im vorigen Sommer, was endlose Scherereien nach sich gezogen hatte.

    Sowtschick löschte die Kerzen und überlegte: Was sollte er tun? Der Nachmittag war schon ruiniert – sollte er den Abend auch noch drangeben? Das sah er nicht ein, es war bereits neun. Jetzt mußte gegessen werden, und Sowtschick setzte sich und langte zu. Hin und wieder stand er auf und sah hinaus, ob er nicht ein Motorrad hört – nichts.

    Nach dem Abendessen legte Sowtschick Schubert auf und ging hinaus auf die Terrasse. Er warf sich in eine den Blutkreislauf schonende Gesundheitsliege und sah in seinen parkartigen Garten hinein, in dem einzelne Bäume mit kleinen Scheinwerfern beleuchtet wurden. Auf dem Rasen waren die größten Maulwurfshaufen Europas zu besichtigen, und zwar in großer Zahl.

    Hundertdreißig Kilometer westlich des nächsten Atomkraftwerks, die richtigen Bäume angepflanzt (widerstandsfähig gegen sauren Regen) und einen Roman angefangen, dessen Ertrag es vielleicht ermöglichte, «auszusteigen», sich in Portugal ein Ausweichquartier zu kaufen und dorthin überzusiedeln, wenn’s brenzlig wird. Eine Hütte am Meer, von wo aus dem abendlichen Singen der wetterzerfurchten Fischer zu lauschen wäre. Einen Lebensmittelvorrat anlegen dort, in Blech verlötet, und für den Notfall ein Pulver, das den endgültigen Ausstieg aus der Gesellschaft schmerzlos ermöglichte.

    Er lauschte der Musik, die aus dem Innern des Hauses kam.

    Es bellen die Hunde, es rasseln die Ketten,
Es schlafen die Menschen in ihren Betten …

    Schubert … Eigenartig. Ob diese Lieder von jeher so knödelig gesungen worden waren? Warum nicht mit einfacher, klarer Stimme? Dieses Kulturgut sollte man den Inder lieber nicht hören lassen, besser Beethoven, die «Fünfte» oder lieber gleich die «Neunte». Die ganze Wucht des Abendlandes auf ihn loslassen, nicht kleckern, sondern klotzen.

    Der Inder: Merkwürdig, dieser Mensch hatte ihn innerhalb weniger Stunden völlig umgekrempelt, er hatte sich irgendwie aufgegeben. Tief in seinem Innern rührte sich der Argwohn, ob sich da nicht wieder jenes Ostische in ihm meldete, das, was Marianne als «Rückgratlosigkeit» bezeichnete? Die Neigung, sich selbst aufzugeben, nur, um für einen einzigen Augenblick jemandem zu gefallen? Sowtschick kannte diese der Lüge verwandte Schwäche! Wie oft war er nicht ausgezogen, dem gutgelaunten Hessenberg die Meinung zu sagen, und doch war daraus immer

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