Hundstage
an diesem Tage von dem vertrauten Mofageräusch auf. Das heißt, er hatte es schon eine ganze Weile gehört, bis es in sein Bewußtsein drang. Er wußte: Ich muß jetzt aufwachen und aufstehen, es wird doch keine Ruhe geben. Er erhob sich also und trat ans Fenster. Am Zaun standen die Mofa-Jünglinge, sie hatten die Motoren laufen, und ab und zu gaben sie Gas. Offensichtlich warteten sie auf den Motorrad-Inder: Sich mal wieder in die Kurve legen und durch die Natur donnern … Das war ihre ganze Sehnsucht.
Als Sowtschick, der an die Ozonschicht über der Antarktis denken mußte, sein Fenster öffnete und sich zeigte, zogen sie Leine, wie man so sagt. Man kann nie wissen, mochten sie denken. Dieser Mann sitzt irgendwie am längeren Hebel. Eine bläuliche Gaswolke blieb zurück.
Sowtschick machte sich in der Küche ein Brot, und bevor sich noch im Haus was rührte, fuhr er nach Kreuzthal. Dem Inder hinterließ er einen Zettel, daß er gegen Mittag zurück sei. Falls Telefonanrufe kämen: vertrösten.
Kreuzthal war ein kleines, verkehrsgerechtes Städtchen, zwanzig Minuten von Sassenholz entfernt. Zwei Straßen kreuzten sich hier, ehemals schattige Landstraßen, mit Posthaltereien alle dreißig Kilometer, es gab noch Ansichtskarten davon. Man hatte die Linden abgehackt und Chausseen aus den Landstraßen gemacht, mit all den zermürbenden Folgen. Aus den Posthaltereien waren Diskos geworden.
Für die gesamte Region hatten zielbewußte Pädagogen in Kreuzthal sechs Schulen verschiedenen Typs errichtet, um endlich dem individuellen Tun sogenannter Zwergschulen ein Ende zu setzen, Flachbauten mit Leichtmetallfassaden und Busbahnhöfen davor: Endlich mal Zug reinkriegen in das verlotterte Schulsystem, die ganze Jugend auf breiter Front aufmarschieren lassen, die Begabten dämpfen und die Zurückgebliebenen anspornen, Ernst machen mit der Gleichheit aller Chancen. Schitti und Klößchen hatten die Punkteschaukelei mit Geschick betrieben, so daß sie zwar nicht wußten, wie lange der Dreißigjährige Krieg gedauert hat, aber das Abitur bestanden.
Von Sowtschick wurde in diesen Schulen nicht gesprochen. Zwar hatte er schon in Kalifornien unterrichtet, in Bordeaux eine Urkunde für völkerverbindende Aktivitäten erhalten, und um seine Manuskripte rissen sich Verlage und Zeitungen, doch in diesen Schulen war er zum konservativen Greis erklärt worden, dem der Kalk bereits aus der Hose rieselt, ein Relikt aus längst vergangenen Tagen. Das kümmerte Sowtschick jedoch nicht, denn Goethe, Lessing und Herder fanden in diesen Instituten ebenfalls nicht statt.
Jetzt lagen die Schulen verwaist da: Ferien.
Vier Großmärkte hatte Unternehmergeist in dieser Stadt errichtet, den Schulen in Bauweise und Funktion nicht unähnlich, HORSTI, Billig-Kauf, Shoppa und die Pfennig-Discount AG. Die Versorgung der Bevölkerung war also gesichert. In der Gummiwarenfabrik, der Holzhandlung des Jägers Budweis, einer Großmolkerei, in der «Irmi»-Sahne hergestellt wurde, und natürlich in der Firma Senneschalk GmbH & Co KG kamen ratlose Väter um eine Lehrstelle für ihre Kinder ein.
Sowtschick stellte sein Auto auf einem Parkplatz ab, der früher einmal ein hübscher kleiner Garten gewesen war, und schritt, wie sein Kollege Fingerling im Winterroman es tat, in die Stadt hinein. Im Mittelpunkt des Städtchens, nicht weit von der Kreuzung entfernt, die durch die langsamste Ampelanlage der Republik gesichert war, stand ein altes butziges Kloster, dem Sowtschick einen kurzen Besuch abstattete. Im Kunstführer des Landes war es zu Recht mit einem Sternchen versehen: ein vollständig erhaltener Kreuzgang – also einmal herum – mit milden Buntglasfenstern, ausgetretenen Bodenfliesen und einem Sommerrempter, in dem noch der Tisch stand, an dem die Nonnen ihre Grütze gegessen hatten. Düstere Schlafzellen in Sargform und eine wunderschöne, sehr statische Kirche. Im kühlen weißen Kirchenschiff stand ein Klotz von Fünte aus dem dreizehnten Jahrhundert. Der Altar war mit vergoldeten Figuren bevölkert wie die allerliebste Orgel, deren Werk früher einmal herrlich gewesen war. In den sechziger Jahren war sie natürlich ausgeschlachtet worden und durch eine neue ersetzt.
Wenn die Sowtschicks Besuch bekamen, aus Lübeck oder Heidelberg, gehörte das Kloster zum Vorzeigeprogramm wie das «Fron-Hus» und das Hünengrab im Wald.
Alexander fand das Kloster rührend, Marianne süß. Engelbert von Dornhagen schätzte es aus historischen
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