Hundsvieh - Kriminalroman
denen ich ungestört an meinen Beinen herummachen konnte, ohne dass es jemand sah und ich gestört wurde, ohne dass jemand merkte, wie es um mich stand.
Und noch später richtete ich Safety-Zonen ein, in denen Kratzen absolut tabu und verboten war, so war zum Beispiel unser Schlafzimmer so eine Zone. Es gab Zeiten, da konnte ich den Juckreiz mit heißem Wasser betäuben, dann wieder juckte es so stark, dass ich erst aufhörte, wenn mir das Blut in die Socken lief.
Und immer wieder die Frage: Warum passiert das mir? Auch gab mir die Tatsache zu denken, dass mein Kratzen mir ein Wonnegefühl gab, bevor sich dann alles in bitterem Schmerz auflöste.
»Herr Mettler, bitte schön.« Die Arztgehilfin öffnet mir die Türe zum Sprechzimmer. »Einen Moment noch, Dr. Kratschmer kommt sofort.«
Verlegen schaue ich mich um, eine Chromstahlliege, ein Schreibtisch, ein Schränklein mit Glasfront, gut sichtbar liegen da diverse Spritzen in verschiedenen Größen, daneben kalt blitzende Instrumente.
»Keine Angst, die brauche ich selten!« Unbemerkt ist der Arzt eingetreten, ein älterer Herr mit Glatze, er legt sich meine Krankenakte zurecht und überfliegt die Personalien. »Herr Mettler, Sie wurden von Ihrem Arbeitgeber angemeldet …«
»Es ist nichts, wirklich, ein kleines Jucken vielleicht, im Moment aber kaum spürbar.«
»Machen Sie sich frei!« Währen ich mir die Hosen ausziehe, kratzt sich Kratschmer immer wieder am Hinterkopf. »Dann wollen wir mal sehen.«
Er zieht sich Handschuhe an, betastet dann meine rote Haut an den aufgekratzten und geschwollenen Beinen. »Na, da haben wir aber eine schöne Bescherung!«
»Und? Was kann ich dagegen tun? Ist es ansteckend, oder kann ich weiter arbeiten?«
»Es gibt zwei Möglichkeiten.« Kratschmer wirft die Handschuhe in den Abfalleimer, wäscht sich die Hände und kratzt sich wieder.
»Und die wären?«
»Entweder vier Wochen Antibiotika und Cortisonspritzen … Oder: Bad Innerpers.«
»Innerpers?«
»Genau.« Kratschmer kratzt sich ein weiteres Mal am Hinterkopf. »Bad Innerpers, gelegen im wunderschönen Val Pers, einem Seitental des Prättigaus. Diverse Schwefelquellen, das Wasser hilft nachhaltig bei allen möglichen Hautausschlägen, Sie werden sehen, nach drei Wochen sind Sie gesund und können wieder arbeiten!«
»Drei Wochen? Und wovon soll ich leben? Ich habe keinen festen Arbeitsvertrag!«
Kratschmer deutet auf das Kästchen mit den Spritzen. »Ist Ihnen das lieber?«
Ich schüttle den Kopf.
»Na also, dann werde ich Ihnen jetzt ein Zeugnis schreiben.«
2.
»Drei Wochen arbeitsunfähig?« Franco Raselli, mein Vorgesetzter bei der Post, tobt. »Wie viele Tage arbeiten sie schon hier, Mettler?«
»Ich … glaube … es … sind …«
»Vier-ein-halb-Tage! Und das zur Probe!« Raselli tigert hin und her. »Und nun wollen sie drei Wochen zur Kur!«
»Was soll ich machen? Der Arzt sagt, dass …«
»Schweigen Sie! Wer, glauben Sie, bezahlt das? Sollen wir etwa die Briefmarken teurer verkaufen? Auf jeder Marke einen Claudio-Mettler-Solidaritätsfünfer draufschlagen?«
Etwas habe ich bereits gelernt in diesen viereinhalb Tagen bei der Post in St. Moritz: Wenn Raselli sich ereifert, ist es das Beste, man schweigt, senkt demütig das Haupt und wartet ab. Vielleicht habe ich das leidende Geknickt-Sein etwas übertrieben. Denn nach dem ersten Ausbruch kehrt Raselli seine väterlich belehrende Seite nach außen und holt zu einem Vortrag über die Wirtschaft im Allgemeinen und die Post im Besonderen aus.
»Verstehen Sie mich nicht falsch, Mettler. Ich bin kein Unmensch. Aber das wirtschaftliche Umfeld zwingt uns, ökonomisch zu denken. Die Post steht nicht mehr alleine da auf dem weiten Feld der Kommunikation, kann nicht mehr arbeiten, wie sie will!« Raselli seufzt hörbar. »Die Konkurrenz schläft nicht, immer mehr Private drängen sich auf diesen Markt, wenn auch unsere Schweizerische Post«, der Chef wirft sich in die Brust, »weiterhin einsame spitze ist.«
»Was hat das mit meinem Ausschlag zu tun?«, wage ich einen scheuen Einwand.
»Das Volk als Besitzer der Post hat gewisse Ansprüche an unser Wirtschaften. Es erwartet, dass haushälterisch mit dem Steuerfranken umgegangen wird, dass ein Gewinn erwirtschaftet wird, der der Staatskasse zugutekommen soll. Außerdem dürfen beim Service public keine Mittel verschleudert werden, trotzdem müssen Briefe, Pakete und Zeitungen bis ins hinterste Haus in den Bergen gebracht werden!«
Ich
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