HUNGER & LUST: Das erste Buch zur Kulinarischen Körperintelligenz (German Edition)
Ernährungserziehung schleichend, aber öffentlichkeitswirksam aus der Küche in den Kindergarten? Und das, obwohl es doch nur sechs bis sieben Prozent adipöse Kinder gibt, die es aufgrund der natürlichen Variationsbreite menschlicher Spezies sicher immer geben wird? Und warum richten sich die meisten Kinderprogramme – allesamt ohne gemeinsame Qualitätsstandards – an den gesünderen Nachwuchs des Mittelstands, obwohl übergewichtige und adipöse Kinder vorwiegend in sozial schwachen Schichten und Familien mit Migrationshintergrund leben? Die Antwort derjenigen, die diese Lernmaßnahmen erstellen, mit Geldern fördern und öffentlich propagieren, ignoriert die oben aufgeführten Tatsachen und lautet lapidar: Die übergewichtigen Kinder von heute sind die dicken Deutschen von morgen! Also frühzeitig ran an den Speck, der aber bei über 93 Prozent nicht fettleibigen Kindern und Jugendlichen schwer zu finden ist . Dabei wird den kindlichen (Phantom-) Kilos der Kampf angesagt, und zwar mit Maßnahmen, deren Effekte niemand kennt. Insbesondere die mittel- bis langfristigen Auswirkungen sind nicht abzuschätzen. Und da keiner weiß, ob diese „spielerischen Erziehungsmaßnahmen“ die kindliche Entwicklung negativ oder positiv beeinflussen, lässt sich ein derartiges gesellschaftliches Engagement noch sehr gut in der Bevölkerung „zum Wohle der Kleinen“ verkaufen – das bringt politische Pluspunkte.
Genau diese moralische Zustimmung aber verweigern immer mehr Erwachsene bei kollektiven Ernährungsbelehrungen, die sie selbst betreffen. Denn erstens lautet die Devise der meisten Bundesbürger: „Mein Bauch gehört mir“ – und zweitens ist inzwischen weit verbreitet, dass „Fünf am Tag“ oder „Fit statt Fett“ nicht die gewünschten Ziele erreichen („gesunde“ Ernährung, weniger Übergewichtige). Der Grund liegt auf der Hand respektive auf dem Teller: Erwachsene Menschen in einem freien Land, in dem sowohl der Körperbau als auch die Essgewohnheiten noch keiner staatlichen Kontrolle unterliegen, lassen sich nicht vorschreiben, was auf den Tisch kommt. Kinder sind in dieser Hinsicht von ihren Autoritätspersonen in Kindergärten und Schulen schon wesentlich leichter zu beeinflussen. Zumindest kurzfristig, bis das „Ernährungsprogramm“ beendet ist. Die vielen wunderbaren und höchst gesunden „Obst- und Gemüsebuffets“, die die Kinder zum Abschluss der Esserziehungseinheit den Betreuern, Eltern und Lokalpolitikern kredenzen, bringen eben positive Publicity in den Tageszeitungen. Doch was bringen sie den Kindern, außer der Tatsache, dass deren leicht formbarer Verstand schon in jungen Jahren die Entwicklung ihrer eigenen Kulinarischen Körperintelligenz manipuliert? Werden die ersten Weichen in Richtung Essstörung gestellt? Beginnen Orthorexie und Magersucht bereits im kindlichen Körper zu keimen? Fangen schon Kinder an, ihr Essen nicht nach Hunger und Geschmack auszuwählen, sondern vernunftgesteuert nach „gesund“ und „ungesund“ zu selektieren? Vielleicht aber ist auch genau das Gegenteil der Fall: „Sobald etwas gesund ist, wird es von Kindern als uncool bezeichnet“, weiß Dr. Thomas Ellrott, Leiter des Instituts für Ernährungspsychologie an der Universität Göttingen. Deshalb hält er auch nichts von Ernährungsunterricht. Seine Meinung könnte auch auf den folgenden, schmeichelhaften „Langzeitergebnissen infantiler Ernährungsbildung“ basieren: Neun Monate nach der Teilnahme an einempolitischen Vorzeigeprojekt hatten die Kinder ihren Obst- und Gemüsekonsum um sagenhafte zehn Prozent erhöht. „Bei Süßigkeiten war der [reduzierende] Effekt leider nicht so deutlich“, sagt der Entwickler des Programms. Dem entspricht die beispielhafte Erfahrung einer Grundschullehrerin, deren Drittklässler den Ernährungsführerschein im Ranzen haben: „Wenn ich vier Wochen nach dieser Lerneinheit mit meinen Schülern Frühstück mache, wird nach Nutellabrötchen gefragt – alles wie gehabt.“ Die Änderung des Essverhaltens ist ja auch nicht interessant bei dieser Maßnahme: „Inwieweit der aid-Ernährungsführerschein eine nachhaltige Veränderung des Essverhaltens der Kinder bewirkt, können wir nicht sagen“ , erklärte im April 2011 Dr. Barbara Kaiser, die dieses Projekt leitet.
Wie immer in diesem Buch stellen auch diese Thesen weder die unbestreitbare Wahrheit noch der Weisheit letzten Schluss dar, sondern möchten Sie maßgeblich zum kritischen Hinterfragen aktueller
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