Hunkelers zweiter Fall - Flattermann
Hände. Seine beiden Kollegen sagten kein Wort.
»Also gut. Schwamm drüber. Fahren Sie weiter, Korporal Kälin.«
Er schaute zu, wie das Auto wegfuhr, fast lautlos, und vorne in die Todtnauerstraße einbog.
Was nun? Heimkehren und alles vergessen? Wenn Kälin Charakter hatte, würde er das Vorkommnis im Postenjournal erwähnen. Es war ja gleich neben der Wohnung des Freddy Lerch passiert, das musste doch auffallen. Aber der hatte Schiss, denn er hatte sich ungehörig benommen.
Und überhaupt, Hunkeler wollte nicht nachgeben. Diesmal nicht. Er hatte genug von der Polizei, von diesen Fettärschen in sauber gebügelten Uniformhosen, von der baumelnden Pistole an den Hüften.
Er machte sich wieder ans Werk, stur wie ein Esel. Er kicherte jetzt, das fiel ihm auf, ein leises, lustvolles Grinsen.
Bei der Nummer 154 fand er, was er suchte. Finione im ersten Stock, Stäheli im zweiten Stock, Bachmann, Del Zenero und Zaugg im dritten. Er drückte die Klingel, wartete, bis die Tür aufsprang, und trat ein.
Geplättelter Flur, abgetretene Holzstufen, eine Klingel, die nicht funktionierte. Er klopfte an die Milchglasscheibe, die mit Rosengirlanden bemalt war. Eine junge Frau öffnete ihm, mit hohlen Wangen, an den Armen nur Knochen und Sehnen. Sie hatte sich ein Badetuch um den Kopf geschlungen, aus dem Wasser tropfte.
»Ja, bitte?«
»Ich bin ein Bekannter des Freddy Lerch«, sagte er, »ich suche Denise Zaugg. Ich habe ihr etwas zu übergeben.«
»Freddy Lerch? Wer ist das?« Sie hob die Hände zum Badetuch hoch, rückte es zurecht.
»Ich heiße Willy Holzherr. Ein Jugendfreund aus Barzwil.«
Sie zögerte, trat dann aber zur Seite und ließ ihn herein. Sie standen sich gegenüber, starrten sich an. Sie war wirklich unglaublich mager.
»Er hat von Ihnen erzählt. Mechaniker, nicht wahr? Kommen Sie.«
Sie führte ihn in die Küche und bat ihn, Platz zu nehmen. Ihr Blick war noch immer argwöhnisch, aber nicht mehr ganz.
»Schön haben Sie’s hier. Darf ich?«
Er zündete sich eine an, hustete und schaute sich um. Vor Tagen gekochte Spaghetti auf dem Herd, drei leere Honiggläser auf der Anrichte, aufgerissene Biskuitpackungen. Haferflocken am Boden, überall Krümel.
»Was wollen Sie?«, fragte sie.
Am Fenster stand der Käfig mit dem blauen Kanarienvogel. Er hüpfte herum, schnäbelte an einem Fischbein. Auf dem Tisch hatte jemand einen Stadtplan von Paris ausgebreitet. Eine Metrostation war eingekreist, mit grünem Kugelschreiber. Er sah es aus den Augenwinkeln, es musste Château Rouge sein.
Sie hatte seinen schnellen Blick bemerkt, nahm den Plan weg und faltete ihn zusammen.
»Wollen Sie verreisen?«, fragte er.
Sie legte den Plan in die Tischschublade. »Das geht Sie nichts an. Und jetzt reden Sie endlich. Ich habe nämlich keine Zeit übrig.«
»Ich suche Denise Zaugg.«
»Und warum?«
»Weil ich ihr etwas zu übergeben habe.«
»Was wollen Sie ihr übergeben?«
Sie war wirklich ein harter Knochen. Kühl und genau.
»Das geht jetzt Sie nichts an«, sagte er und lächelte süß.
»Jetzt grinsen Sie nicht so blöd. Oder sind Sie etwa von der Polizei?«
Er schüttelte den Kopf, überlegen abwehrend. »Warum? Sehe ich so aus?«
Sie ließ ihn nicht aus den Augen. Dann hatte sie offenbar Vertrauen gefasst. »Nein, eigentlich nicht. Es geht ihr nicht gut, müssen Sie wissen. Sie hat Probleme.«
»Was für Probleme?«
Schon war das Misstrauen wieder da. »Jetzt reden Sie wieder so. Ich komme einfach nicht draus bei Ihnen.«
»Ich suche Denise Zaugg. Das habe ich Ihnen gesagt. Weil ich ihr etwas übergeben muss, was Sie nichts angeht. Auch das habe ich Ihnen gesagt.«
»Und Sie heißen wirklich Willy Holzherr?«
Er schaltete blitzschnell. »Wie ich heiße, tut eigentlich nichts zur Sache.«
»Ach so.« Sie gab sich geschlagen. »Sie bringen Bericht von ihm.«
Er hob die Achseln, schwieg.
»Sie ist im Todtnauerhof vorn, keine fünf Minuten von hier. Und jetzt entschuldigen Sie mich bitte. Ich habe eine Verabredung.«
Sie führte ihn hinaus, mit kühler Freundlichkeit, schloss die Tür, drehte den Schlüssel.
Hunkeler stieg die Treppe hinunter. Er wäre am liebsten heimgefahren und hätte sich auf dem Bett eingerollt in seine Träume. Er kam sich übel vor, so verdammt fies. Aber er ging nach vorn zur Kreuzung und betrat den Todtnauerhof.
Es war eine normale Quartierbeiz. Ein Stammtisch mit dem Wimpel der Kleinbasler Wasserfahrer am schmiedeeisernen Aschenbecher, ein paar ältere Biertrinker
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