Hunkelers zweiter Fall - Flattermann
gekommen wäre. Es war nicht dazu gekommen, weil er eingegriffen hatte, heimlich und unbefugt.
Hunkeler hatte Hilfe nötig, sofort. Er stieg die Treppe zu seiner Wohnung hoch, ging in die Küche, nahm das blaue Heft aus dem Eiskasten und fing an zu lesen, was unter RÜCKKEHR INS VERGESSEN notiert war.
»Ich will mein Heimatland nicht beleidigen. Aber ich will doch anmerken, dass mir die Heimkehr nicht leichtfiel. Das fing schon beim Zoll im Französischen Bahnhof an. Ich hatte einen schweren Überseekoffer bei mir mit eisenbeschlagenen Ecken, der sich jetzt auf dem Estrich meiner Wohnung befindet. Darin hatte ich meine ganze Habe. Der Zöllner machte ein finsteres Gesicht und durchwühlte den Koffer von zuoberst bis zuunterst. Als ob ich ein Schwerverbrecher gewesen wäre. Als er mich fragte, woher ich komme, teilte ich ihm wahrheitsgemäß mit, dass ich 18 Jahre in der Karibik zur See gefahren sei. Da hat er den Kopf geschüttelt und mich ganz vorwurfsvoll angeschaut. Dass er den Koffer durchwühlt hat, war ja in Ordnung. Aber dass er mir einen stummen Vorwurf gemacht hat, nur weil ich für 18 Jahre meine Heimat verlassen habe, war daneben. Er hätte ruhig freundlich sein können. Schließlich bleibt man auch im Ausland ein Schweizer, wenn man ein Schweizer ist.
Überhaupt die Freundlichkeit. Es fiel mir schon am ersten Tag meiner Heimkehr auf, wie unfreundlich die Menschen waren. Äußerlich waren sie zwar nett und gaben zuvorkommend Auskunft. Aber innerlich nicht. Es fehlte ihnen die Freude, die Fröhlichkeit, das Lachen. Als ob sie nur ungern gelebt hätten. So kam es mir vor. Das ist meine Meinung.
In der Karibik lachen die Leute. Und man lacht mit. Sie freuen sich am Himmel oder am Wasser. Und man freut sich mit. So nimmt man teil aneinander.
Oder das Lügen. In der Karibik lügt man oft. Das gehört zum Leben. Man lügt zum Beispiel deshalb, weil man dem Mitmenschen nicht unangenehme Dinge sagen will. Aus Höflichkeit. In meiner Heimat lügt man, um einen persönlichen Vorteil zu haben. Das ist ein großer Unterschied. Das hat mich am Anfang geschmerzt, bis ich mich gewöhnt habe. Man kann die Menschen nicht ändern.
Ich habe bald eine rechte Stelle bei der Thomy AG gefunden, in der Saucen-Herstellung. Vor allem Mayonnaise. Diese Stellung habe ich bekleidet, bis ich 65 Jahre alt war. Also 25 Jahre lang, bis 1981, mit bestem Können. Dann bin ich pensioniert worden, mit einer kleinen Rente. Schon auf den ersten Februar 1956 habe ich eine Zweizimmerwohnung an der Lorbeerstraße bezogen. Nichts Besonderes, aber relativ billig im Zins. Ölheizung, zwei Öfen. Die habe ich selber gekauft. Auch die Dusche in der Toilette habe ich selber eingerichtet. Ich habe mir geholfen.
Die Gegend an der Lorbeerstraße gefällt mir. Es wohnen viele Ausländer da, ein Völkergemisch. Das ist fast ein bisschen wie drüben.
Neuerdings kommen viele Junge hierher, die wenig Zins zahlen können. Das belebt die Gegend. Man wird selber jung.
Wie oberwähnt habe ich bald nach meiner Heimkunft meine ehemalige große Liebe besucht. Sie wohnte noch im gleichen Ort, dessen Namen ich nicht verrate. Nur jetzt in einem Einfamilienhaus am Hang oben. Wir haben uns in einer Wirtschaft in der Nähe des Bahnhofs verabredet. Sie hat mir gesagt, sie liebe mich noch immer, ihr Leben sei wie ein Grab (wörtlich!). Sie denke jede Nacht an mich. Aber sie könne sich nicht freimachen. Das ist einfach etwas, was ich nicht verstehe. In der Karibik, wenn man jemanden liebt und haben möchte, geht man zu dieser Person hin und fragt: Ich will dich haben. Wie ist es mit dir? Die Antwort ist ja oder nein. Ist die Antwort ja, geht man zusammen. Es gibt kein Hindernis, das einen hindern könnte. Denn die Liebe befiehlt dem Leben, nicht umgekehrt.
Ich weiß nicht, hat sie gelogen oder nicht. Wer kann das sagen? Bei Frauen weiß man nie, ob sie die Wahrheit sagen.
Ich habe sie seither nie mehr gesehen. Sie hatte immer noch die gleichen Bernsteinaugen. Das habe ich schon gesagt.
Ich war dann eine Zeitlang traurig. Ich begreife es noch heute nicht. Sie steht immer noch im Telefonbuch.
Ich habe dann eine andere genommen. Ich bin nicht gemacht zum Alleinsein. Ich habe fast immer eine Frau gehabt. Aber es war nicht mehr das Gleiche.
Die Jahre gingen ins Land. Ich bin inzwischen älter geworden. Ich merke das Alter, ich bin nicht mehr so vital wie früher.
Zum Glück musste ich nicht mehr in den Militärdienst einrücken. Wegen der Malaria. So hat eben jedes
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