Hunkelers zweiter Fall - Flattermann
nackten Füßen auf dem Steingeländer, die gespannte Ruhe vor dem Absprung auskostend. Dann kippten sie ihre Körper nach vorn, drei Schreie, sie flogen durch die Luft, gekonnt und sicher, tauchten hinein.
Ist das nicht verboten? Nein, das ist nicht verboten, du Arschloch, sagte er laut, er schrie es fast. Denn was ist das Leben? Ein Wartsaal, bis der Tod uns holt, oder ein Abenteuer? Befiehlt das Leben der Liebe, oder befiehlt die Liebe dem Leben? Und ist der Mensch eine Ölsardine oder ein Fliegender Fisch?
Beim Hotel Drei Könige kletterte er über das Eisengeländer. Links führte die Treppe hinunter, die beachtete er nicht. Er stellte sich in Positur, konzentriert, wartete gespannt. Dann ließ er sich kippen und sprang ab. Er versuchte zu jauchzen. Es wurde ein heiseres Krächzen, und er fiel platt auf den Bauch. Beim Auftauchen lachte er, es schüttelte ihn kurz, bis eine Welle in seinen Mund schwappte.
Dann lag er ruhig, Finger und Zehen ausgestreckt, ein Flossenfüßer, im Hals die Kiemen, im Ohr das Geschiebe der Kiesel.
Als er ins Badehaus kletterte, war André daran, den Lehmsand von den Stegen zu spritzen.
»Schade«, sprach Hunkeler, »ich wäre nämlich gerne hindurchgewatet. Stell dir einmal vor, wie sich meine Fußsohlen gefreut hätten. Oder ist das auch verboten?«
André stellte den Wasserstrahl ab, runzelte die Stirn. »Du sagst das wegen des Pudels, nicht wahr?«
»Was für ein Pudel?«
Aber André beharrte auf dem Thema. Er hatte darüber nachgedacht und war zu einem Schluss gekommen. Das sah man ihm an. »Die Frau Lang ist auch ein bisschen selber schuld«, behauptete er. »Wenn es schon in den Statuten steht, sollte sie sich eben auch daran halten. Wozu macht man denn sonst solche Statuten?«
»Ja, warum? Vielleicht sollte man gar keine Statuten machen. Oder was meinst du?«
»Nein«, sagte André. »Denn ohne Statuten würde das Chaos ausbrechen.«
»Wie schön.«
»Hör auf, ja?« André schien sich ernsthaft Sorgen zu machen. »Ich habe gemeint, du seist Polizist.«
»Ja, das habe ich auch gemeint.«
André schüttelte den Kopf und richtete den Wasserstrahl wieder auf die zarte Sandfläche.
»Stell ab!«, schrie Hunkeler. Als wieder Stille war, sagte er: »Der Mann, der da oben vor ein paar Tagen heruntergesprungen ist, wird heute Nachmittag um 14 Uhr auf dem Friedhof Hörnli begraben. Das wollte ich dir sagen.«
»Okay«, sagte André und salutierte.
Er fuhr über die Mittlere Brücke, im dunklen Anzug, die schwarze Krawatte um den Hals, und schob ein Bändchen mit Dizzy Gillespies Trompete drauf in den Recorder. Tä-dä-dä, Tä-dä-dä, sang er mit, Salt Peanuts, Salt Peanuts!
Ein Strand irgendwo in der Karibik. Ein Negerboy geht vorbei, den Korb mit den Erdnüssen in die Seite gestemmt, ein Bild, rein und wahr wie im Alten Testament. Salt Peanuts, Salt Peanuts!, ruft der Junge. Da taucht Freddy Lerch auf aus dem Palmenhain, in der weißen Uniform des ersten Stewards der Andalusia, ein stattlicher Mann. Er winkt, der Negerboy geht zu ihm hin und lacht. Freddy lacht mit. Gemeinsam setzen sie sich in den Sand und knabbern Erdnüsse. Draußen über der See rollt die dunkelrote Sonne hinab und taucht tief ins Wasser hinein. Und die Fliegenden Fische glitzern im Lichte der Sternenpracht.
Er bog nach links ab in die Lorbeerstraße hinein, er wollte noch einmal bei seinem alten Bekannten vorbeischauen. Eigentlich hasste er Beerdigungen und drückte sich, wann immer es ging, bei solchen Anlässen. Keine Todeskultur, keine Würde mehr, nichts, dachte er. Diese moderne Hilflosigkeit Seiner Majestät gegenüber, diese Pissoir-Architektur der Abdankungshallen, weil sie am liebsten sogar den Tod verbieten würden.
Aber diesmal musste es wohl sein.
Freddy Lerch war nicht zu Hause, die Fensterläden waren geschlossen. Oben im dritten Stock steckte ein neues Schloss in der Tür.
Er grinste blöd, als er das feststellte. Beseitigt die Spuren, dachte er, das muss alles seine Ordnung haben.
Unten auf der Straße zögerte er. Was nun, alter Mann? Wohin mit dem blauen Heft? Da drin stand doch, dass Silvan Lerch unschuldig war. Tä-dä-dä, pfiff er und ging die paar Schritte weiter zur Nummer 154. Da war der Briefkasten mit den drei Namen Bachmann, Del Zenero und Zaugg. Er hielt das Heft in den Händen, er hätte es beinahe in den Schlitz geschoben.
Er tat es nicht. Er gab dieses Heft nicht her. Das war eine Fundsache, er hatte sie gefunden. Und er würde sie behalten, legal oder
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