Hunkelers zweiter Fall - Flattermann
illegal, bis sich der rechtmäßige Besitzer bei ihm melden würde.
Was hätte die Lady Denise denn überhaupt anfangen können damit? Es lesen, ja. Aber das hatte ja Hunkeler schon getan. Hätte sie etwa dieses Heft dem Staatsanwalt überbringen können mit dem Hinweis, sie habe es in Herrn Lerchs Wohnung gefunden, aus reinem Zufall, er solle mal hineinschauen und lesen, was über den jungen Silvan drinstand? Was hätte denn Staatsanwalt Suter dazu gesagt? Er hätte sich erkundigt, wie die junge Dame denn in die Wohnung des alten Lerch gekommen sei. Etwa deshalb, weil sie in näherer Beziehung zu einem Verwandten des Verstorbenen, zum Beispiel zu seinem entflohenen Großneffen, stand?
Sie hätte natürlich auch die Wahrheit sagen können. Dass nämlich ein gewisser älterer Herr ihr von diesem Heft erzählt habe, es könne nur von ihm kommen, er müsse es in den Briefkasten gesteckt haben. Aber woher kannte sie diesen Herrn? Wirklich nur zufälligerweise, von einem Besuch im Todtnauerhof?
Gut, sie hätte es anonym an die Polizei schicken können mit dem Hinweis: Betrifft die Unschuld des ausgeschriebenen Silvan Lerch. Aber das konnte Hunkeler selber auch tun, er musste nur vorher die Fingerabdrücke wegwischen. Vielleicht hatte er das auch tatsächlich vor, er wollte es nur noch zu Ende lesen.
Er machte kehrt, setzte sich ins Auto und fuhr los, dem Friedhof Hörnli entgegen.
Er kam, wie immer, zu spät. Der Pfarrer war bereits mitten in der Predigt. Der übliche Schwachsinn, fand Hunkeler. Die hatten einfach keine Sprache mehr, keinen Stil, diese Diener Gottes. In jedem dritten Satz tauchte das Wort Heil auf. Das Heil des ewigen Lebens, das Heil der Seele. Das Heil finden, das Heil offenbart bekommen, das Heil erfahren. Als ob es nie ein Heil Hitler! gegeben hätte.
Der Pfarrer schwitzte bedenklich, es war eine richtige Hundsverlochete. Genau vierzehn Nasen waren da, mit Hunkeler fünfzehn. In der ersten Bank die Familienangehörigen, sechs Stück an der Zahl. Zwei alte Damen, groß und stark. Das mussten die Schwestern sein. Ein alter Herr mit Glatze, Typ Geschäftsmann, der genau in der Mitte saß, dem Pfarrer gegenüber, mit vorbildlicher, zurückhaltender Trauer. Das war bestimmt der Fensterlerch. Ein Paar der mittleren Generation, die Frau seidenumflort, samt zwanzigjähriger Tochter, die immerzu gähnte. Dann, weiter hinten, drei Damen, auf eigentümliche Weise eine Gruppe bildend, obschon sie ziemlich weit auseinander saßen. Zwei davon mollig, mit schweren Oberarmen und festem Nacken, die andere zierlich und fein. Sie hielt den Kopf gesenkt, das Gesicht in ein Taschentuch vergraben. Das kurze, rötliche Haar der Lady Zaugg war zu sehen, das grüne Shirt, die mageren Achseln. Neben ihr saß Badehausabwart André, sorgfältig gekämmt, in dunklem Anzug mit weißem Hemdkragen. Dann die Vertreter der Basler Polizei, drei an der Zahl, unauffällig verstreut auf verschiedene Bänke, damit es nicht auffiel. Madörin, Haller und Lüdi, nicht in Uniform, versteht sich (wir sind inkognito hier, Kameraden!), in dezenter Trauerkleidung.
Getrauert wurde um einen Seemann, 18 Jahre Karibik und erst noch Selbstmord. Der Pfarrer kam zum Lebenslauf, er schwitzte noch mehr. Der Verstorbene hat sein Heil im Wasser gesucht, sprach er. Erst auf den Meeren der Welt, ein wackerer Matrose. Ein Unzufriedener, Suchender, Ringender allezeit, ein Jonas im Schiffsbauch, aber der Herr gab ihm Heil und hat ihn zurückgespuckt ins heimische Vaterland. Dann, als seine Seele zerbrach, hat er das Heil im Rhein gesucht. Dazwischen 25 Jahre Mayonnaise, ein tüchtiger Arbeiter, das Heil in pflichtbewusster Hingabe findend. Oft, in den seltenen Mußestunden, saß er in der Fischerstube und schaute auf den Rhein hinaus, der ihm zum Grab werden sollte. Ein Schwankender bis zuletzt, ein Wasserfahrer. Und ist nicht die Wasserfahrt das Sinnbild schlechthin für das menschliche Leben? Liegt nicht das Heil des Menschen im heiligen Wasser, mit dem er getauft wird? Wie ein Fluss ist des Menschen Leben. Es beginnt klein, als Rinnsal, es endet im Meer des Heils, im Herrn.
Es setzte die Orgel ein, Großer Gott, wir loben dich. Als Einzige sangen mit der Pfarrer (verschwitzt, mit gefalteten Händen), der alte Fensterlerch (mit kräftigem, vorbildlichem Bass) und Detektiv-Wachtmeister Madörin.
Man pilgerte durch die schnurgerade Allee (Grab an Grab, Leiche an Leiche) zum Grab der Unbekannten, wo ein Loch in die Wiese geschaufelt war. Der Pfarrer hob
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