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Hurra wir kapitulieren!

Hurra wir kapitulieren!

Titel: Hurra wir kapitulieren! Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henryk M. Broder
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verteidigen, die von ihren europäischen Kollegen bereitwillig aufgegeben wurden.
    Wie ist so etwas möglich? Wie kann man das Phänomen der vorauseilenden Kapitulation erklären?
    Erst einmal mit dem Argument der Zahl. Gäbe es 1 , 5 Milliarden Dänen auf der Welt und nur 5 , 5 Millionen Moslems, wäre es zu keinem Karikaturenstreit gekommen. Jeder Mopedfahrer weicht zur Seite aus, wenn ihm auf seiner Spur ein Schwerlaster entgegenkommt. Das kränkende Gefühl, nachgegeben zu haben, kann er auf zweierlei Art überwinden. Entweder er sagt sich: Der Schwächere gibt nach, oder er idealisiert sein Verhalten: Das sei er dem Fahrer des Lasters schuldig gewesen, der einen viel längeren Bremsweg habe, für seinen Job schlecht bezahlt werde und auf einem Parkplatz übernachten müsse. Da könne man es ihm nicht zumuten, zu viel Rücksicht auf andere zu nehmen ... Der Mopedfahrer erhebt sich über den Trucker, indem er sich in seine viel schlechtere Lage versetzt.
    Genau das tun die europäischen Gutmenschen mit den Objekten ihres Mitgefühls. Sie haben für alles Verständnis, was die Underdogs der Geschichte, die Opfer der Globalisierung und die Invaliden des Fortschritts anstellen. In Wirklichkeit aber haben sie nur Angst vor deren Kraft, die von keinerlei Hemmungen gezügelt wird. Hinzu kommt, dass 1 , 5 Milliarden Moslems einen Markt darstellen, den man nicht ignorieren kann, auch wenn die Kaufkraft des einzelnen eher bescheiden ist. Die Masse macht‘s. Glaubt irgendjemand, der bis drei zählen kann, die Firmen Nestle und Ferrero hätten auch dann Anzeigen in großen arabischen Zeitungen platziert, um sich von den dänischen Karikaturen zu distanzieren und daraufhinzuweisen, dass sie für ihre Produkte keine Zutaten aus Dänemark verarbeiten, wenn der arabische Markt so groß wie das Königreich Tuvalu in der Südsee wäre, bewohnt von knapp 12 000 Menschen?
    Zum schlichten und doch so gewichtigen Argument der Zahl kommt noch eine Überlegung hinzu: Was war vorher da? Die Henne oder das Ei? Im Falle der Mohammed-Karikaturen würde das heißen: Haben die Karikaturisten auf die mörderischen Aktionen der Islamisten reagiert oder reagieren die Moslems auf die beleidigenden Karikaturen, setzen sich nur zur Wehr, wobei einige ein wenig über das Ziel hinausschießen? Die europäische Appeasement-Fraktion neigt zu der zweiten Lesart: Wir provozieren, sie reagieren. Und fragt sich: Was machen wir nur falsch, dass sie uns so hassen?
    Es bleibt ihr auch nichts anderes übrig, denn nur so können sich die Appeaseniks aus der passiven Rolle der Adressaten befreien. Liegt es an uns, dann müssen nur wir unser Verhalten ändern, damit sie aufhören, uns anzugreifen. Läge es an ihnen, könnten wir nichts machen, außer uns wie bei einem Hurrikan verbarrikadieren und beten, dass der Sturm bald vorbeigeht und kein neuer aufkommt.
    Mit der scheinlogischen Konstruktion: »Wir sind die Ursache, sie sind die Folge«, bauen wir uns, nicht ihnen, eine Brücke. Was wie eine noble Geste der Selbstbezichtigung aussieht, ist nur ein Akt der Verzweiflung, ein letzter Versuch, der Falle der Passivität zu entkommen.
    Auf diese Weise haben auch die Juden lange versucht, den Groll der Antisemiten zu entschärfen. Sie legten die traditionelle Kleidung und ihre Dialekte ab, sprachen ein besseres Deutsch als die meisten Deutschen, richteten wohltätige Einrichtungen ein, meldeten sich freiwillig zum Kriegsdienst. Einige gingen sogar so weit, den Schabbat auf den Sonntag zu verlegen, um zeitgleich mit ihren christlichen Mitbürgern den Gottesdienst zu besuchen. Die Juden bewegten, wandelten und reformierten sich, nur die Antisemiten rührten sich nicht von der Stelle. Im Gegenteil, sie hassten die Juden umso mehr, zuletzt dafür, dass sie so flexibel und so anpassungsbereit waren. Es dauerte eine Weile, bis die Juden begriffen, dass es ihnen nicht hilft, sich bei den Antisemiten anzubiedern, weil der Antisemit sich nicht daran stört, was der Jude macht oder unterlässt, sondern daran, dass es ihn gibt. Manche, von Noam Chomsky bis Uri Avnery, haben die Lektion noch nicht begriffen und bieten sich den Antisemiten weiterhin als Sachverständige und Zeugen dafür an, was die Juden (beziehungsweise inzwischen Zionisten) alles falsch machen und warum es politisch richtig und moralisch berechtigt ist, Juden beziehungsweise Zionisten nicht zu mögen.
    Zu welchen Exzessen die Freunde der Appeasement-Politik heute imstande sind, macht am deutlichsten immer

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