Hurra, wir leben noch
Gesicht wurde plötzlich sehr ernst. »Ich will Sie weiß Gott nicht erschrecken, Monsieur Jacques …«
»Dann tun Sie’s nicht!«
Dr. Baudelet räusperte sich. Er räusperte sich noch einmal.
»Na!«
»Dieser … hm … Erstickungsanfall …« Der Arzt wählte seine Worte jetzt mit Bedacht und Umsicht. »… hatte … äh … multifaktorielle Entstehungsbedingungen …«
»Multifak … was?«
»… wobei eine gewisse Herzschwäche …«
»In meinem Alter? Herz? Herr Doktor!«
»…sowie ein Reizzustand des Magens …«
»O Gott …«
»… vielleicht eine diabetische Stoffwechsellage …«
»O Gott, o Gott …«
»… eine Schwächung der Nierenfunktionen …«
»Doktor!«
»… aber auch Veränderungen des Gehirns …«
»Doktor, ich flehe Sie an!«
»…einige der auslösenden Faktoren gewesen sein können.«
»Wie lange habe ich noch zu leben?«
»Akute Lebensgefahr besteht nicht. Im Moment nicht! Ich schreibe Ihnen hier meine Adresse auf. Die Visitenkarten habe ich leider nicht bei mir … und Sie kommen so schnell wie möglich, damit ich Sie eingehend untersuchen und dann eventuell zu einer weiteren Behandlung ins Hôpital Saint-Antoine bringen lassen kann.«
»Also ich werde nicht sterben?«
»Zuerst müssen Sie gründlich untersucht werden. Jetzt bleiben Sie noch eine halbe Stunde liegen – ganz entspannt, und daß Sie mir ja nicht wieder mit Claudine anfangen! –, dann können Sie aufstehen. Ich sehe Sie morgen um fünfzehn Uhr. Guten Abend, Monsieur Jacques.« Dr. Baudelet steckte sein nicht sehr chromblinkendes Instrumentarium in eine ärmliche Ärztetasche, verschloß diese und ging mit Claudine zur Tür.
Also hat’s mich erwischt, dachte Jakob. Rasch tritt … und so weiter. Ich habe aber auch Raubbau getrieben. Morgen um 15 Uhr. Doch nicht zu diesem Armleuchter! Die ersten Spezialisten Frankreichs müssen gleich morgen früh, heute früh … Jakob angelte nach seiner Hose. Suchte. Und fand die Hasenpfote, die ihm die ganze Zeit gefehlt hatte. Im nächsten Moment atmete er erleichtert durch. Denn im nächsten Moment wirkte die Pfote bereits. Während Dr. Baudelet nämlich die Tür hinter sich schloß, fragte er leise (aber Jakob konnte ihn deutlich hören): »Was hat der denn gefressen, bevor ihr raufgegangen seid?«
Die Tür blieb einen Spalt offen. So unvorsichtig kann einer sein und sich ums eigene Glück bringen, dachte Jakob selig und blätterte fieberhaft in seinem französischen Wörterbuch, das er in Frankreich stets bei sich trug, hin und her, weshalb es ihm möglich war, auch noch die folgenden Sätze zu verstehen:
»Schmalzbrote, Monsieur le Docteur.«
Der Arzt sah Claudine angeekelt an.
»Was? Das ist ja grauenhaft! Wie viele Schmalzbrote?«
»An die zwölf, Monsieur le Docteur.«
»Nom de Dieu! Dann ist es wahrhaftig kein Wunder, daß er den Anfall bekommen hat. Zwölf Schmalzbrote auf einen Sitz und danach vö … coitieren … das hält ja kein Schwein aus!«
Kein Schwein …! Dieser Doktor!
»Ja, aber was war das denn wirklich, Monsieur le Docteur?«
Rasend schnell blätterte Jakob in seinem Wörterbuch.
»Bouffer …« Das heißt Fressen. »…asthme …« Das heißt Asthma. Was, was, was? Freßasthma? »…estomac …« Magen heißt das. »…diaphragme …« Das wäre Zwerchfell. »… contre le cœur …« Gegen das Herz. O du meine Hasenpfote! Ich habe einfach zuviel gefressen, das Zwerchfell hat sich mir gegen das Herz geschoben! Das war alles. »… eh bien, voila, et après avoir fait l’amour il manquait de respiration …« Bum, da haben wir’s: Und nachdem ich Liebe gemacht habe, hat’s mir den Atem abgeschnürt!
Wenn Dr. Baudelet die Tür geschlossen hätte, wäre er ein reicher Mann an mir geworden.
7
Ein Taxi brachte Jakob zurück zum HÔTEL DES CINQ CONTINENTS .
Er ließ das Taxi in die Garage fahren. Von dort fuhr er im Aufzug zu seinem Appartement empor. Den Schlüssel hatte er. Er trat ein. Er knipste das Licht im mittleren Salon an. Um keinen Lärm zu machen, hatte er die Schuhe ausgezogen. Mit den Schuhen in der Hand stand er auf einem echten Riesen-Smyrna und sah sich vis-à-vis der Edlen. Die Edle saß auf einem edlen Stuhl, gefesselt: die edlen Füße an den beiden vorderen Stuhlbeinen, die edlen Hände auf dem edlen Rücken, hinter der Stuhllehne des edlen Stuhles. Mitten im Salon saß sie. Und das entsetzlichste: Sie hatte kein Gesicht mehr!
Jakob schwankte.
Das Gesicht der Edlen war
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