Hurra, wir leben noch
sprechende Männerstimme? Wo bin ich überhaupt? Was ist das für ein kleines Zimmer? Nackt! Ich bin ja total nackt! Total nackt liege ich auf einem zerwühlten Bett. Wieso? Haben die Herren in der Datscha mir etwas eingegeben? War etwas in dem guten Kirschkuchen, dem selbergemachten? Wer steht da zu meiner Linken? Ein kleiner Mann mit Glatze und Zwicker. »Sehen Sie«, sagt die Glatze mit Zwicker, »Sie können schon wieder atmen, was?« Er sagt es englisch. Ich nicke ihm englisch zu. Wer steht da zu meiner Rechten in einem dünnen Morgenmantel? Das ist doch meine süße Claudine, das brave Mädel! Wie kommt die auf eine Datscha bei Moskau? Warum heult die so! Also, wenn die Russen ihr was getan haben, dann sage ich ihnen aber auch nicht ein einziges Wort über eine einzige Schraube von meinen Fertighäu …
Das ist doch Claudines Zimmer über dem Lokal vom JAUNE CHIEN ! Wo ich Schmalzbrote … und dann mit ihr hier rauf … und sie dann ausgezogen, langsam und mit Genuß … und mich selber auch … bis auf die Armbanduhr … 2 Uhr 50? Herrgott, welchen Tag haben wir denn heute? Der … achtundzwanzigste Oktober … müßte es sein … 2 Uhr 50? Es
muß
2 Uhr 50 sein, die Uhr geht nie falsch, die ist von ›Piaget‹! Das Feinste vom Feinsten! Herrgott, ich bin doch spätestens um Mitternacht mit Claudine raufgegangen! Als wir anfingen, war es eine halbe Stunde später. Und jetzt ist es 2 Uhr 50? Also der neunundzwanzigste. Was ist in der Zwischenzeit geschehen? Hoffentlich habe ich nicht ausgequatscht, wer ich bin, lieber Gott … Aber wie gut, daß es der neunundzwanzigste Oktober 1956 ist!
»Ich bin Docteur Baudelet, Monsieur«, sagte der mit der Glatze und dem Zwicker.
»Angenehm, Doktor.« (Alles in Englisch, dazwischen redet Claudine französisch.)
»Was ist … was war denn los mit mir?«
»Monsieur le Docteur ist der einzige hier. Er macht alles, weißt du. Bei mir schon zweimal.«
»Man hilft, wo man kann«, sagte Dr. Baudelet. »Um ein Haar wären Sie mir hopsgegangen, Monsieur … Sie wollen mir nicht sagen, wie Sie heißen?«
»Will ich nicht, nein.«
»Tut mir leid, dann muß ich die Polizei …« Im nächsten Moment war der nackte Jakob hochgefahren und hatte sich dermaßen in den Doktor verkrallt, daß nun der in Todesangst geriet.
»Loslassen! Loslassen!«
»Das könnte Ihnen so passen! Damit Sie die Polente rufen!«
»Und Sie? Kein Name, was? Damit Sie nicht bezahlen müssen!«
»Was bezahlen?«
»Mein Honorar.«
»Das zahle ich gleich. In bar.«
»In bar. Na, dann ist es gut. Legen Sie sich hin, Monsieur. Entspannen Sie sich. Ganz locker, bitte! Sie sind momentan nicht der Kräftigste …«
Jakob ließ sich zurückfallen. Claudine schluchzte.
»Hör auf, Claudine!«
»Ach, Jacques, Jacques … Es war doch alles ganz normal … die erste Nummer wundervoll wie immer … und dann, plötzlich, bei der zweiten …«
»Ja? Ja? Herrgott, was war bei der zweiten?«
»Bist du von mir runtergerollt und hast gekeucht, und ich habe gedacht, du erstickst, du nibbelst mir ab, und da habe ich nach dem Wirt geschrien, und Monsieur Louis und Monsieur Emile und ein paar Männer und ein paar Poules sind heraufgekommen …«
»Die waren alle da?«
Jakob verstand nur jedes sechste Wort in Claudines Französisch, aber was wichtig für ihn war, hörte er schon heraus, und so wurde ihm mies. So viele Leute!
»Ja! Chochotte ist zuletzt losgerannt und hat den guten Docteur Baudelet geholt, und der ist gleich gekommen …«
»Danke, Doktor.«
»Nur meine Pflicht, Monsieur. Fünfhundert Francs.«
»Wieviel?«
»Monsieur, ich bin Armenarzt. Ich lebe selber kümmerlich genug. Wissen Sie, was für eine Gegend das hier ist, Belleville?«
»Ja, ich weiß. Aber fünfhundert Francs! Finden Sie das nicht ein wenig übertrieben?«
Dr. Baudelet kratzte beschämt seine Glatze. »Man muß leben, Monsieur Jacques, der nicht sagen will, wie er heißt.«
Für einen Nachtbesuch und für Errettung aus Todesgefahr in Belleville – na schön, dachte Jakob, man soll nicht so sein, vielleicht macht er dafür einem armen Mädchen, ich meine, vielleicht entfernt er etwas. Die Mandeln zum Beispiel. Er angelte nach seiner Hose, die auf der Erde lag (Ich muß es ja mächtig eilig gehabt haben! dachte er) und erledigte die Forderung des Mediziners.
»Und jetzt sagen Sie mir, was das war?«
Dr. Baudelet betrachtete nachdenklich die fünf Hundert-Francs-Scheine, die Jakob ihm gereicht hatte, und sein
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