Hurra, wir leben noch
Franzl und die Laureen liegen auf weichen Schlafwagenbetten im ›Orient-Expreß‹, dachte Jakob, und keiner betet für sie, inniglich. Nicht neidisch sein. Ich komme ja nach. Bald. Meine Eier haben Vorrang …
Der ›Orient-Expreß‹ hatte München um 5 Uhr 30 früh erreicht, besser: das, was von München übriggeblieben war, und das war sehr wenig. Jakob stand, vom Schneesturm umheult, und gähnte. Was so ein richtiger Werwolf ist, der ermüdet auch den geübtesten Herrn …
Unweit des Münchner Hauptbahnhofes erblickte Jakob den Eingang eines Tiefbunkers. Na, dachte er, da wird sich ja noch ein Plätzchen finden lassen. (Jakob konnte überall schlafen, auch auf Betonboden. Wenn man ihn nur ließ.)
Er erreichte den Eingang zum Tiefbunker. Dort stand eine Telefonzelle ohne Glasscheiben, so daß jedermann hören konnte, was ein kleiner Mann, der gerade telefonierte, sagte. Der kleine Mann sagte, der Kaffee könnte jetzt abgeholt werden. Neben sich hatte er einen Sack. Überstark roch der Kaffee. Jakob schnupperte. Zwei Bahnpolizisten, die neben der Zelle standen, mußten ihn eigentlich auch riechen. Offenbar nicht. Jakob wollte den Tiefbunker betreten. Daran wurde er durch einen verschlafenen Mann gehindert, der, dick vermummt, quer hinter dem Eingang des Bunkers auf dem Boden lag.
»Was wollen denn Sie?«
»Wer sind denn Sie?«
»Portier von diesem Hotel.«
»Blöde Frage. Schlafen.«
»Kommt gar nicht in Frage.«
»Warum nicht?«
»Weil … wir sind überkomplett«, sagte der Hotelportier. »Da gibt’s nur noch die Caritas-Baracke. Bahnhofsmission«, sagte der Vermummte auf dem Betonboden.
»Wohlan«, sagte Jakob. »Ich danke für den Hinweis.« Als er zu der Telefonzelle kam, fuhr da gerade ein Auto mit Holzvergaser vor. An der Windschutzscheibe steckte ein großes Schild. ARZT IM DIENST , las Jakob. Interessiert blieb er stehen und beobachtete, gemeinsam mit den beiden verträumten Polizisten, wie der kleine Schwarzhändler, der telefoniert hatte, den Sack zum Auto schleppte, dessen Fahrer den Kofferraum geöffnet hatte. Der Kaffee wurde verstaut. Geldpacken wechselten den Besitzer. Der ›Arzt im Dienst‹ fuhr ab. Der Kleine beleckte die klammen Finger und zählte Scheine.
»Immer lustig«, sagte Jakob zu den beiden Polizisten.
Derjenige, der ihm antwortete, sprach gepflegtes Hochdeutsch: »Was wollen Sie, mein Herr? Die Lage verschlechtert sich rapide. Verglichen mit heute haben hier vor einem Jahr noch zivilisierte Zustände geherrscht. Ich bin als einer der letzten aus Stalingrad herausgeflogen worden. Meinen Sie, ich riskiere nun in der Heimat mein Leben?«
Der kleine Schwarzhändler, der das Geldzählen beendet hatte, fluchte laut: »Jetzt kann ich bei der Kälte zurück nach Giesing! Ich frier’ mir noch mal meinen Johnnie ab!«
»Warum müssen Sie denn auch um diese Zeit arbeiten?« forschte Jakob.
»Weil da die Polizei, mein Freund und Helfer, aufpaßt. Du hast ja keine Ahnung, was sich hier am Tag für kriminelle Elemente herumtreiben!« Der Kleine sprach mit einem östlichen Akzent.
»Bist du fromm?« fragte Jakob den Kleinen.
»Was soll die blöde Frage?«
»Ich auch nicht. Aber jetzt müssen wir es sein«, sagte Jakob. »Los, komm!« Und er ging schon voraus in Richtung auf die Caritas-Baracke.
32
»Wollen wir noch eine pusten?« fragte Jakob eine Viertelstunde später, auf der Pritsche des Notfall-Kämmerchens liegend, wobei er sich wohlig streckte.
»Sehr freundlich!« Der Kleine nahm eine ›Chesterfield‹ aus der Packung, die Jakob ihm hinhielt.
1947 – Hunger und Hoffnung
4. Januar
: DER SPIEGEL . Nr. 1.
März:
Volksmund: Zusatzfrage zum Entnazifizierungs-Fragebogen: »Gedenken Sie im Jahr 1948 noch zu leben? Wenn ja – wovon?«
5. Juni
: Marshallplan, ERP (bis 1951 an West-Europa 12,4 Milliarden $, davon an West-Deutschland 1,7 Milliarden $).
10. Juni
: Durch »Gemeinsame Anordnung« der US - und der britischen Militärregierung wird die »Verwaltung des Vereinigten Wirtschaftsgebietes« (im Volksmund: Bizonesien) errichtet.
5. Juli
: In Berlin wurde auf dem Schwarzen Markt ein Negerbaby gegen 8 Doppelzentner Zucker und laufende Lebensmittelzuteilung angeboten. Es war sofort »vergriffen«.
Juli:
John Scott in »Time«: »Die Deutschen sind augenscheinlich nicht bereit, irgend etwas zu der Zukunft Europas beizutragen außer harten Worten und der Hoffnung, daß sie die amerikanisch-russischen Spannungen zu ihrem Vorteil ausnutzen können.«
Der
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