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Hybrid

Titel: Hybrid Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Wilhelm
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Mannes, und er ruderte heftig mit einem Arm, woraufhin die anderen Kreaturen ebenfalls stehen blieben. Dann legte er den Kopf schief und streckte seine Hand nach Toms Hals aus. Die dunkel verfärbten Finger zitterten in der Luft. Er wollte nach Toms Halskette greifen, deren Amulett nun frei auf seiner Brust lag. Doch er berührte die geschnitzte Maske, die der Anhänger darstellte, nur flüchtig mit den Fingerspitzen. Dann legte er seine Hand auf Toms Brust und neigte den Kopf vor ihm. Die anderen taten es ihm gleich, und in Windeseile verbreitete sich die Bewegung durch den ganzen Raum, einer nach dem anderen verneigte sich, so gut es seine Missbildungen zuließen, und für einen Moment verstummten auch die Schreie. Eine ehrfürchtige Stille legte sich über den Raum.
    »Die Kette von der Alten aus dem Dorf«, raunte Juli. »Sie war nicht so verrückt, wie sie aussah. Vielleicht war sie selbst eine Schamanin oder eine heilige Frau.«
    »Was tun diese ganzen Menschen hier?«, fragte Tom, als der Mann vor ihm einen Schritt zurückwich. Langsam erhoben alle anderen wieder ihre Köpfe, und nach und nach setzte auch das allgemeine Wehklagen wieder ein.
    Der Mann vor Tom legte seinen Kopf wieder schief und streckte einen Arm aus. » Salva-nos! «, kam es rau aus seinem Mund.
    »Was sagt er da? Kannst du ihn verstehen?«, fragte Tom.
    »Er sagt: ›Rette uns‹«, übersetzte Juli.
    Tom ging vorsichtig einige Schritte durch den Raum, während die Missgestalteten und Verletzten in respektvollem Abstand vor ihm und Juli zurückwichen. Der Boden war mit zerrissenen Lumpen, stinkenden Pfützen und undefinierbaren Haufen aus Speiseresten, Erbrochenem und Kot bedeckt. Die Zelle, in der sie sich befanden, maß höchstens fünfzehn Quadratmeter und war an drei Seiten von Gitterstäben umgeben. An zwei Seiten grenzte sie direkt an weitere Käfige, die dritte Seite war auf die Mitte des Gewölbes hin ausgerichtet und verfügte über eine Tür.
    »Das Schloss ist offen!«, rief er erstaunt aus, als er sich die Tür ansah. »Die könnten jederzeit raus.«
    »Einige sind ja auch geflohen. Aber scheinbar können das nicht alle. Oder sie wollten nicht auf sich aufmerksam machen. Deswegen haben sie vielleicht auch das Loch in der Wand wieder verschlossen.«
    Tom drückte versuchsweise an der Tür. Sie bewegte sich, ließ sich öffnen. Dann ging er hindurch, dicht gefolgt von Juli.
    Sie standen wie gelähmt auf einem Mittelgang. Links und rechts von ihnen bildeten die bis zur Decke reichenden Gitterstäbe ein Spalier. Zelle reihte sich an Zelle, überall streckten sich Arme in verzweifelten, bittenden und krallenden Bewegungen durch die Spalten. Es mussten Hunderte sein. Tom sah Frauen und Männer, junge und alte gleichermaßen, die schwachen kauerten oder lagen auf dem Boden. Zwischen den Gefangenen entdeckte er auch zahlreiche Kinder, ausgemergelt und krank, und Toms Hals schnürte sich zu.
    Während sie sich umsahen, trat der Mann, der Toms Kette erkannt hatte, aus der Zelle, kam auf den Gang und ging zur gegenüberliegenden Zelle, wo er ein paar Arme ergriff, die sich ihm entgegenstreckten. Er drehte sich zu Tom um. Seine Stimme war kratzig und gurgelte. » Nossas Famílias «, brachte er über seine zerschundenen Lippen. » Liberta-nos. «
    »Wir sollen sie befreien, sagt er«, erklärte Juli. »Das ist wohl seine Familie. Es sind alles Familien.«
    »Deswegen sind sie nicht geflohen. Weil sie zusammenbleiben wollen …« Er holte seine Kamera hervor und wechselte den Akku. Aber Juli fasste ihn an der Schulter. »Mach keine Fotos hier. Es ist so … unwürdig.«
    Tom zögerte einen Moment. Dann hängte er sich die Kamera um. »Ja. Und wir haben auch keine Zeit. Wir müssen hier raus, bevor die Wachleute nach dem Rechten sehen.«
    Sie gingen den Mittelgang entlang zum Ende des Gewölbes. Eine Stahltür versperrte den Weg. Als Tom sie untersuchte, stellte er fest, dass auch sie unverschlossen war. Wie die Geflohenen es geschafft hatten, ihre Zelle und diesen Raum zu öffnen, blieb vermutlich ein Geheimnis. Aber noch kümmerten sich die Wachleute offenbar um die unmittelbaren Probleme draußen am Zaun.
    Sie verließen den Zellentrakt und traten auf einen schmucklosen Gang. Der schlichte Betonboden war sauber, und nachdem sie die Tür hinter sich geschlossen hatten, war der Gestank erheblich erträglicher. Sie gingen an mehreren identischen Stahltüren vorbei, die mit Zahlen beschriftet waren, die man mit einer Schablone und Sprühfarbe

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