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Hybrid

Titel: Hybrid Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Wilhelm
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zu werden, die Wände fühlten sich weich und bröckelig an. Und sie hatten erst ein winziges Stück der Strecke zurückgelegt. Er bemühte sich, schneller voranzukommen, um so bald wie möglich diesem Grab entfliehen zu können.
    »Soll ich dir noch etwas erzählen?«, fragte Juli.
    »Nur zu.«
    »Dieser Gang hier macht mir eine Scheißangst. Ich bin leider nicht so mutig wie du. Also werde ich jetzt einfach ein bisschen herumplappern, okay? Denk dir nichts dabei.«
    Erneut lächelte Tom, dieses Mal aus Zuneigung. »Was auch immer du plapperst«, sagte er, »es erhellt meinen Weg, mehr als es das Licht meiner Kamera jemals könnte.«
    »O weh. Schreibst du auch so deine Artikel?«
    »Nun ja … ehrlich gesagt …«
    »Versuch’s besser nicht«, meinte Juli. »Nach Shakespeare klang es nicht gerade. Aber ich schätze mal, es war nett gemeint, also sei dir verziehen.«
    Während sie vorangingen, redete Juli beständig weiter, und tatsächlich half es auch Tom, die drohenden Gedanken fernzuhalten. Sie waren schon eine Weile unterwegs, aber die Zeit war unmöglich abzuschätzen und die Entfernung schon gar nicht. Auch wenn Tom sich anstrengte, kam er auf Händen und Füßen nicht sonderlich gut voran, und die unbequeme Haltung ließ ihn mehrfach einige Augenblicke verschnaufen. Möglich, dass sie den Sicherheitszaun schon hinter sich gelassen hatten.
    Der Gang verlief unregelmäßig, wand sich stellenweise um herabreichende Wurzeln, schien aber weitestgehend in gerader Linie auf die Anlage hin zu verlaufen. Immer wieder sah er seltsame Rillen in den Wänden, wo die Erde etwas fester war, und er meinte, darin Spuren von Krallen zu erkennen. Was ihn zu der Überlegung führte, wie dieser Gang wohl geschaffen worden war. Mit Schaufeln sicherlich nicht. Dafür war er zu niedrig. Er wirkte, als hätte man ihn mit bloßen Händen und Krallen gegraben. Dann erinnerte er sich an den Toten mit den abgewetzten Fingern. Vielleicht hatte er hier gearbeitet? Oder andere wie er?
    Als Tom schon meinte, der Gang würde kein Ende mehr finden, nahmen seine Sinne zweierlei Dinge wahr. Er hörte Stimmen. Gedämpft, entfernt, aber es waren Stimmen. Er hoffte jedenfalls, dass es Stimmen waren, tatsächlich hörte er zunächst nur verschiedene Laute, die unregelmäßig aufklangen, und er konnte sie nicht näher identifizieren.
    Das andere, das er wahrnahm, war ein Geruch. Er war nur ganz leicht, aber er veränderte das dichte, feuchte Aroma der Erde. In der schweren, sauerstoffarmen Luft lag eine neue Note, säuerlich und schwach faulig.
    »Wir müssen jetzt leise sein«, sagte er. »Ich glaube, wir sind gleich da.«
    Sie krochen weiter, noch behutsamer als zuvor. Tom entschloss sich, die Kamera auszuschalten. Ihr Licht war ohnehin schon fast verblasst, und je nachdem, wo sie herauskamen, wollte er sie nicht verraten.
    Die Laute wurden mit jedem Meter deutlicher. Aber Stimmen waren es keine. Es war ein Stöhnen und Heulen aus unzähligen Kehlen, stoßweise, unkontrolliert, es waren plötzliche Schmerzensschreie und getragenes Jammern auszumachen, eine Kakophonie unsäglicher Pein, die geradewegs aus der Hölle kommen mochte.
    Der Geruch hatte sich zu einem kaum erträglichen Gestank ausgewachsen. Es war die essigsaure Penetranz von faulendem Abfall, gemischt mit der süßen, dunklen Fäulnis von Fäkalien und verwesendem Fleisch. Es war, als stiegen sie geradewegs in die Gedärme der Unterwelt hinab.
    Tom spürte, wie sich Julis Hand auf sein Bein legte und verharrte.
    »Ich habe Angst«, sagte sie leise.
    »Ich auch«, gab er zurück. »Mehr, als du ahnst. Aber bisher hast du mir Mut gemacht. Ohne dich wäre ich niemals so weit gekommen.« Er streckte seinen Arm nach hinten und ergriff ihre Hand. »Ich weiß nicht, was uns erwartet. Es wird vielleicht schlimmer sein als alles, was wir uns vorstellen können. Aber wir müssen es tun. Wir tun es für die Gestalten, die wir gesehen haben, und wir tun es für Marie. Und dafür, dass eine so großartige Frau wie du nirgendwo Angst haben muss.«
    »Du bist süß«, sagte Juli, und Tom konnte das Lächeln in ihren Worten spüren. »Also dann«, fuhr sie fort, »weiter mit uns Angsthasen. In die Höhle des Löwen!«
    Nach wenigen Metern stieß Tom abrupt an das Ende des Gangs. Die Wand vor ihm war fest, gerade und rau. Er schaltete das Licht seiner Kamera noch einmal ein und stellte fest, dass sich vor ihm eine Wand aus Mauersteinen befand. Er drückte versuchsweise dagegen. Die Steine ließen sich

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