Hymne an Die Nacht
Zitternd vor Kälte und vor Furcht wartete sie, bis er aus dem Kofferraum warme Decken und ein paar Fackeln geholt hatte, die er jetzt entzündete, bevor sie sich in der Dunkelheit vorwärts bewegten.
Zögernd folgte sie ihm in einen quadratischen Innenhof, wo wild wuchernde Pflanzen und Gestrüpp wie bizarre Schneeskulpturen aufragten. Die Burg dahinter erschien ihr wie ein drohendes Mahnmal. Sie blieb einen Moment stehen, um dieses Bild in sich aufzunehmen. Noch nie hatte sie einen Ort gekannt, der so gottverlassen wirkte. Langsam folgte sie Stanislaw, der schon die bröckelnden Steintreppen zum Eingangsportal emporschritt. Auch Igor schien das Unheimliche dieses Ortes zu spüren. Er hielt sich die ganze Zeit dicht neben ihr, und sie war froh darüber.
Stanislaw stieß das unverschlossene Portal mit dem Fuß auf und hielt inne. Joanna und Igor warteten am Fuß der Treppe, bis er die Schwelle überschritten hatte. Er wandte sich um und bedeutete ihnen mit einer Handbewegung, ihm zu folgen.
Dann standen sie in einer großen zugigen Halle, deren einstige Pracht nur noch zu erahnen war. Moder drang aus den Fugen des abgewetzten Steinbodens, dumpfe Kälte umfing sie. Stanislaw steckte zwei Fackeln in die alten eisernen Halterungen an den Wänden, worauf die Flammen im Luftzug leise zu tanzen begannen.
Vorsichtig sah Joanna sich um. An den Wänden hingen noch verblichene, zum Teil stark beschädigte Gemälde und erinnerten vage an eine lange zurückliegende Familientradition. In einem mehr als zwei Meter hohen Kamin lag der Unrat von Jahrhunderten. Und in der Mitte des riesigen Raums stand ein langer, halb verfaulter Holztisch.
Stanislaw bewegte sich mit schweren, langsamen Schritten darauf zu. »Hier ist es passiert«, flüsterte er, und dann brach ein Schrei aus seiner Kehle und erfüllte den Raum, bis die Mauern von einer Qual widerhallten, für die es keine Erlösung zu geben schien.
Doch da war Joanna schon bei ihm, und jetzt war sie es, deren Arme ihn umschlossen, als wollten sie ihn für alle Zeiten so halten. »Was auch geschehen mag«, ihre Stimme streifte ihn wie ein sanfter Hauch, »ich werde immer ein Teil von dir sein, so wie du ein Teil von mir bist.«
Schließlich wandte Stanislaw sich ab und trat vor den Kamin, in dem so lange kein Feuer mehr gebrannt hatte. Joanna wartete, bis er zu sprechen begann.
»Mein Großonkel Lorant lockte mich damals unter dem Vorwand, eine dringende Familienangelegenheit besprechen zu wollen, aus Frankreich, wo ich gerade meine Ausbildung beendet hatte, hierher. Ich hatte all die Jahre im Exil unter Heimweh gelitten und sehnte mich danach, nach Transsylvanien zurückzukehren. Außerdem war ich neugierig auf den geheimnisumwitterten alten Mann, von dem ich nur wusste, dass er ganz allein in dieser Burg hauste und von der Familie totgeschwiegen wurde.«
Er unterbrach seine Rede, die Erinnerungen schienen ihn weit zurück in die Vergangenheit zu tragen.
»Er empfing mich wie einen lang vermissten Verwandten, bewirtete mich mit Speisen und Getränken, ohne selbst etwas davon anzurühren, doch ich war von der langen Reise viel zu erschöpft, um mich zu wundern. Sein einsames Dasein wurde nur von einem großen Wolfshund geteilt.« Stanislaws Blick ruhte kurz liebevoll auf Igor, der sich neben ihm niedergelassen hatte. »Lorant fragte mich, wie ich es mit der Familientradition halte, und als ich sagte, sie sei mir sehr wichtig, nickte er zufrieden. Er brauche jetzt einen Nachfolger, war das Letzte, was ich wie durch einen Nebel von ihm hörte, und als ich aus der Trance erwachte, in die er mich versetzt hatte, war ich zum Vampir geworden. Er hatte die Blutstaufe an mir vollzogen.«
»Blutstaufe? Was bedeutet das?«, flüsterte Joanna atemlos.
»Was das bedeutet?« Die Linien um Stanislaws Mund traten im Widerschein der Fackeln stärker hervor und verzogen sich zu einer bitteren Grimasse. »Der Vampir ritzt sich die Haut auf und zwingt sein Opfer, von den austretenden Blutstropfen zu trinken, dann trinkt er selbst von dessen Blut. Damit ist etwas vollzogen, von dem es keine Wiederkehr gibt.« Er drehte sich zu Joanna um, die ihn aus geweiteten Augen anstarrte. »Hinterher erzählte er mir seine eigene Geschichte. Als Zweitgeborener ohne Anspruch auf Titel und Vermögen war er so etwas wie ein Desperado geworden. Zunächst strebte er eine Militärkarriere an und wurde Offizier, trieb sich dann aber ziellos in der Welt herum und verdingte sich schließlich als Söldner, bis
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