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Hymne an Die Nacht

Hymne an Die Nacht

Titel: Hymne an Die Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sylvia Madsack
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sich die Strecke immer länger hinzog, doch Stanislaw blieb stumm. Er steuerte das Geländefahrzeug mit einer grimmigen Zielstrebigkeit, und erstmals seit Beginn ihrer gemeinsamen Reise empfand sie Unbehagen.
    »Wir sind gleich da«, murmelte er.
    Mit einem Ruck hielt der Wagen an. »Von hier aus müssen wir zu Fuß weitergehen.« Er wandte sich zu Igor um, der von seinem Lager auf dem Rücksitz aufgestanden war und erwartungsvoll hechelte. »Du kannst jetzt nicht mit, du musst den Wagen bewachen. Wir sind bald zurück.«
    Der Wolfshund schnaubte beleidigt. Geistesabwesend strich Joanna über das struppige Fell. »Ist es noch weit bis zum See?«
    Stanislaw schüttelte den Kopf. Sie stiegen aus, und als er ihren Arm nahm, um sie eine Böschung hinunterzuführen, wirkte er angespannt.
    Er löste seinen Griff, und sie folgte ihm an seiner ausgestreckten Hand, bis sie das Seeufer erreicht hatten. Sie wusste nicht, was sie erwartet hatte, aber der erste Blick auf den See von Snagov löste ein Gefühl der Erleichterung in ihr aus. Ferienhäuser, die meisten mit heruntergelassenen Jalousien, säumten das schilfbewachsene Ufer, Boote lagen an den Stegen vertäut und dümpelten im Brackwasser, Seevögel flogen mit heiseren Schreien vor ihnen auf. Eine kleine Barkasse mit Außenbordmotor tuckerte ohne Eile über die glatte Wasseroberfläche. Sonst wirkte alles sehr still, die Saison war zu Ende.
    Von der Böschung aus führte eine geschwungene Stahlbrücke zu der kleinen Insel. Dort hatten orthodoxe Mönche im frühen Mittelalter ein Kloster errichtet. Stanislaw ging voraus, und Joanna folgte ihm langsam. Die Umrisse der Kirchtürme waren in dieser Jahreszeit von weitem gut erkennbar, kein Laub behinderte die Sicht. Auf der Mitte der Brücke blieb Joanna stehen. Sie lehnte sich über die Brüstung und spähte ins Wasser hinab. Stanislaw, der die Insel schon fast erreicht hatte, drehte sich um.
    »Wo bleibst du?«, rief er.
    »Ich bin gleich bei dir«, rief sie und spürte, wie etwas in ihrem Inneren widerstrebte. Jeder Schritt bereitete ihr auf einmal Mühe, ihre Beine fühlten sich schwer an.
    Stanislaw sah ihr mit unbewegter Miene entgegen, bis sie direkt vor ihm stand.
    »Bist du schon einmal hier gewesen?«, fragte sie leise. »Damals, meine ich.«
    »Nein«, sagte er kurz angebunden. »Mein Wissen über den Bau der Kirche stammt aus alten Schriften.«
    Es roch nach feuchtem Gras und welkenden Blättern, nach Herbst und Vergänglichkeit. Sie zog die Schultern zusammen. Im nächsten Moment spürte sie seine Arme um sich. »Danke, dass du bei mir bist«, flüsterte er.
    Gemeinsam schritten sie den kurzen Weg zur Kirche hinauf. Joanna rief sich in Erinnerung, was sie in ihrem Reiseführer über die wechselvolle Geschichte des Klosters gelesen hatte. Demnach waren im 14 . Jahrhundert zuerst eine Kapelle und später ein Kloster entstanden. Hundert Jahre später wurde alles niedergerissen und in der jetzigen Form neu errichtet, als Ziegelbau im byzantinischen Stil.
    Die Insel war dicht bewachsen und musste in der warmen Jahreszeit ein blühendes Paradies sein. Zwei kleine Mischlingshunde liefen ihnen entgegen, die sie neugierig beäugten und gleich wieder im Gebüsch verschwanden. Hinter verwilderten Rasenflächen entdeckten sie ein Gehege mit Hühnern und Ziegen.
    »Was für eine Idylle«, murmelte Joanna. Sie durchquerten den Torbogen eines frei stehenden quadratischen Glockenturms, der die Kirche dahinter wie ein steinerner Wächter zu beschützen schien. Ein paar Schritte weiter führte ein Steg zu einem Anlegeplatz mit einer Holzbank hinunter.
    Joanna sah ihren Vater an. »Ich möchte einen Moment dort unten sitzen.«
    »Dann warte ich hier auf dich.«
    Sie spürte die Ungeduld in seiner Stimme. »Es dauert nicht lange«, sagte sie und lief auf den Steg zu. Die Holzplanken hielten offenbar noch, doch die Bank wirkte so morsch, dass sie sich nicht setzen mochte. Rasch kam sie zurück.
    »Nun?« Er betrachtete sie forschend.
    »Ein sehr romantischer Platz, wie gemacht für ein Liebespaar, nur wird dort demnächst alles auseinanderfallen.«
    Die Tür des Gotteshauses war angelehnt. »Stanislaw«, wisperte sie, »werden wir hier allein sein? Oder treffen wir womöglich auf einen orthodoxen Geistlichen?«
    »Ich weiß es nicht«, gab er genauso leise zurück. »Bis jetzt kann ich hier kein menschliches Wesen entdecken.«
    Als sie wie zwei Komplizen bei verbotenem Tun die Kirchentür aufdrückten, empfing sie Stille. Im Vorraum

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