Hymne an Die Nacht
der Kapelle stand ein Tisch mit Postkarten und allerlei Text- und Bildmaterial zur Geschichte des Klosters, daneben ein Kästchen mit einem Münzschlitz. Fotografieren sei verboten, bedeutete ein Schild.
An der gegenüberliegenden Wand standen Tafeln, auf denen die Chronik von Snagov detailliert beschrieben wurde. Dazwischen waren Abbildungen der vielen Herrscher zu sehen, die sich um das Kloster verdient gemacht hatten. Joanna stellte sich davor und begann zu lesen.
Der Legende nach hatten Mönche orthodoxen Glaubens die Insel bereits im 11 . Jahrhundert besiedelt, um dort in völliger Abgeschiedenheit ein gottgefälliges Leben zu führen. Die Geschichtsschreibung erwähnte Snagov erst ab dem Jahr 1408 , als auf der Insel bereits eine große Kirche entstanden war. Von da an hatten die Fürsten der Walachei das Kloster immer wieder durch Schenkungen unterstützt. Eine vorgelagerte Marienkapelle wurde errichtet, der Bau weiterer Mönchszellen folgte.
Einer dieser Stifter war Vlad I. Dracul, der Vater von Vlad Tepes, wie der als Pfähler in die Geschichte eingegangene walachische Fürst genannt wurde und der ebenso wie sein Vater auch Vlad Dracul hieß.
Als sie den Namen las, zuckte Joanna zusammen. Sie las weiter:
Während der späteren Amtszeit von Vlad Tepes wurde die Klosteranlage vergrößert. Eine Verteidigungsmauer entstand, eine Brücke zum Festland, ein Gefängnis für Räuber und Landesverräter und zuletzt ein unterirdischer Tunnel als Fluchtweg unter dem Snagov-See.
Stanislaw hatte die ganze Zeit hinter Joanna gestanden. Jetzt trat er neben sie, und im dämmrigen Zwielicht des Raumes sahen sie sich an. Die Konturen seiner Züge traten schärfer hervor als sonst, seine Augen, die in so unterschiedlichen Nuancen leuchten konnten, wirkten jedoch wie erloschen.
Sie versuchte, sich wieder auf den Text an der Wand zu konzentrieren. Als nächstes bedeutendes Datum wurde vom Verfasser der Chronik das Jahr 1476 genannt, das Jahr, in dem Vlad Tepes während eines Kampfes mit den Türken in der Nähe von Bukarest den Tod fand.
Die Türken brachten seinen abgetrennten Kopf im Triumph nach Istanbul, sein Leichnam wurde in der Klosterkirche von Snagov begraben, wie er es als mächtiger Wohltäter des Klosters einst verfügt hatte.
Der Chronist beschrieb weiterhin die wechselvolle Geschichte des Landes und seiner jeweiligen Regenten. Die Klosterkirche selbst wurde demnach mehrmals zerstört, das erste Mal etwa hundert Jahre nach der ersten geschichtlichen Erwähnung.
Je länger Joanna las, desto mehr fröstelte sie innerlich. Ab Mitte des 16 . Jahrhunderts wurden immer wieder politische Gegner des jeweils herrschenden Systems auf Snagov eingekerkert und viele von ihnen dort auch ermordet. Im Jahr 1864 wurden die Klöster von Staats wegen enteignet, die Mönche vertrieben. Die Kirche von Snagov geriet in Vergessenheit, doch ab Anfang des 20 . Jahrhunderts war sie mehrmals restauriert worden.
»Auf dieser Insel steht ein Gotteshaus«, murmelte sie, »und zugleich war sie über lange Zeit immer wieder auch ein Ort des Schreckens. Wie kann so etwas sein?«
»Die spirituelle Kraft, die von einer Kirche ausgeht, ist meist stärker als das Geschehen in ihrem Umfeld«, erwiderte er.
Joanna runzelte die Stirn, ohne zu antworten.
Sie betrachtete ein meterhohes Votivgemälde, das die Heilige Madonna der Verkündigung zeigte. Ihr war die Klosterkapelle ursprünglich geweiht worden. Joannas Blick ruhte eine Weile auf dem Jesuskind, dessen Darstellung mit der oft süßlichen Malweise der Katholiken nichts gemein hatte. Dieser Knabe wirkte befremdlich erwachsen und ernsthaft, als wüsste er längst, dass er seinem Geschick nicht entgehen konnte.
Sie ließ sich Zeit, um die Details des Raumes aufzunehmen, ohne auf Stanislaw zu achten. Jeder Zentimeter war mit Fresken ausgemalt, die Wände, die Säulen, die Decke. Es waren Abbildungen von Heiligen der orthodoxen Kirche, von ihren Stationen, ihren Leidenswegen. An einigen Säulen wurden momentan Reparaturen ausgeführt. Als sie vor dem Altarraum stand, sah sie die Steinplatte, die in den Boden eingelassen war. Darunter sollte Vlad Tepes begraben liegen.
Joanna trat neben Stanislaw, der mit gesenktem Haupt auf die Steinplatte starrte. Ein Ewiges Licht brannte neben der Abbildung von Vlad Tepes.
Sie beugte sich ein wenig hinab, um das Bronzerelief, das in einem Marmorrahmen steckte, genauer betrachten zu können. Ja, das war er. Nur aus wenigen menschlichen
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