Hymne an Die Nacht
nicht vom Bildschirm lösen. Fasziniert las sie weiter:
Nach der Scheidung hatte Vadims Exschwiegervater dafür gesorgt, dass er in Rumänien keine Rollen mehr erhielt, weder im Fernsehen noch auf der Leinwand. Als Schauspieler schien er erledigt, doch dann kam alles anders. Vadim folgte dem Rat eines Freundes, ihn nach Los Angeles zu begleiten, wo man sich sofort für ihn interessierte, genauer gesagt, für sein Gesicht. Den Machern in Hollywood waren gegen Ende des Jahres 2000 immer mehr die unverwechselbaren Typen früherer Zeiten abhandengekommen, die Darsteller wurden austauschbarer. Einer wie Vadim war nicht nur neu, er war vor allem anders.
Joanna unterbrach ihre Internetlektüre. Von alldem hatte sie nie etwas erfahren. In Marbella war sie zwar manchmal ins Kino gegangen, aber dort liefen nur die großen Kassenhits, und Darsteller aus einem in jeder Hinsicht so entlegenen Land wie Rumänien fanden dort keinerlei Beachtung.
Insofern war Rumänien ihrer südspanischen Heimat ähnlich. Auch Andalusien war von den wichtigen kulturellen Ereignissen und Entwicklungen eher entfernt, man zehrte dort vom Erbe früherer Zeiten. In Städten wie Sevilla oder Granada gab es zwar eine lebendige Szene von Künstlern und Intellektuellen, an der Costa del Sol jedoch, besonders an einem Ort wie Marbella, zeigte man kein großes Interesse an der europäischen Kultur. Das war immer so gewesen, und Klima, historische Entwicklung und ein nicht zu leugnender Regionalcharakter würden auch künftig dafür sorgen, dass alles so blieb. Genau diese Voraussetzungen zogen die zum Glück noch zahlreichen Touristen aus dem Norden an, die an der Sonnenküste ein Paradies unverfälschter Lebensfreude zu finden glaubten. Wer in diesem Paradies einer Arbeit nachging, sah alles natürlich aus einer realistischeren Perspektive, und so hatte es auch Joanna erlebt. Ihr Adoptivvater war Mediziner aus Leidenschaft gewesen, er hatte sein Studium selbst finanziert und den späteren Aufbau der Praxis nur seinen eigenen Fähigkeiten zu verdanken gehabt.
Ihr wurde klar, wie wenig sie von der Welt kannte. Sie hatte wie unter einer gläsernen Glocke gelebt, behütet und geliebt.
Eine vertraute Stimme riss sie aus ihren Gedanken. Stanislaw stand in der Tür. »Hier bist du also, ich habe dich gesucht. Was machst du denn da?«
Rasch klickte sie die Seite über Vadim weg und schloss das Programm. »Ach, ich habe nur ein bisschen im Netz gestöbert, um mir die Zeit zu vertreiben. Und ich wollte meine Mails anschauen.« Sie stand auf und nahm ihre Tasche.
»Wollen wir aufbrechen? Igor und unser Gepäck sind schon im Wagen.«
Sie küsste ihn flüchtig auf die Wange und nickte. »Ja, lass uns aus dieser Stadt verschwinden.«
Gemeinsam gingen sie an der Rezeption vorbei in Richtung Ausgang. Lea winkte ihr zu: »Gute Reise!« Joanna winkte zurück.
»Gestern Nacht, nachdem du schlafen gegangen bist, habe ich noch einen kleinen Spaziergang durch Bukarest gemacht«, sagte er, als er den Motor anließ, und deutete auf das Straßenbild, »aber bei Tag ist es hier noch hässlicher. Egal, jetzt müssen wir uns erst mal Richtung Flughafen durchkämpfen, von da aus führt dann eine Schnellstraße nach Transsylvanien.«
Es dauerte eine Weile, bis sie das Stadtzentrum hinter sich lassen konnten. Immer wieder mussten sie lange an den Ampeln warten, der Verkehr war auch um die Mittagszeit dicht. Joanna ließ alles an sich vorbeiziehen, ohne wirklich darauf zu achten, sie war mit Kopf und Herz schon weit weg. Als sie erneut in einem Stau standen, wandte sie flüchtig den Kopf nach rechts, und ihr Blick fiel auf ein großes Filmplakat am Straßenrand. Schon wieder Vadim, dachte sie irritiert.
»Verdammt«, schimpfte Stanislaw. Er war höchstens drei Meter gefahren, und an der Spitze der Kolonne wurde es schon wieder rot. Aber auf diese Weise hatte Joanna Gelegenheit, die Abbildung genauer zu betrachten. Erst jetzt bemerkte sie im Hintergrund von Vadims Foto die übrigen Darsteller, eine sehr hübsche junge Frau, von der etwas Unschuldiges ausging, eine ältere, die ebenso attraktiv wie gefährlich wirkte, und einen Mann mittleren Alters, dem man die Rolle des Fieslings sofort glaubte.
Stanislaw war ihrem Blick gefolgt. »Was fasziniert dich denn dort so? Ich wusste nicht, dass du dich für Filme interessierst.« Es wurde grün, er fuhr wieder an.
»Ich gehe manchmal ins Kino«, erwiderte sie leicht gereizt, »schließlich leben wir auch in Marbella nicht wie auf
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