Hymne an Die Nacht
und Viehweiden. Kleine, mit Schilf bewachsene Weiher waren die einzige Abwechslung.
»Um auf Ewa zurückzukommen«, sagte sie langsam, »mir ist da einiges noch immer nicht klar.«
»Was genau willst du wissen?«
»Wenn sie hier zu den sogenannten Hexen gehört, kann sie doch nur eine Zigeunerin sein, oder? Und wie passt das dann zusammen, dass Tomas ihr Neffe ist? Er selbst ist doch offensichtlich keiner von ihnen.«
»Liebe Joanna, heutzutage spricht man nicht mehr von Zigeunern, man spricht von Roma oder Sinti. Ich dachte, deiner Generation ist die politische Korrektheit in die Wiege gelegt worden.«
Sie schwieg einen Moment verdrossen, bis sie sein Schmunzeln bemerkte.
»Ist ja schon gut, und ein bisschen hast du ja auch recht«, lenkte er ein. »Normalerweise blieben die ethnischen Gruppen unter sich, und es gab kaum Vermischungen, aber hin und wieder kam es vor. In vielen Familien aus osteuropäischen Ländern findet man Nachkommen, die das Erbe der sogenannten Zigeuner in sich tragen. Manche davon sind außergewöhnliche Menschen, begnadete Musiker, charismatische Persönlichkeiten oder solche wie Ewa, die mit ganz anderen Mächten im Bunde sind.«
»Ich verstehe«, murmelte Joanna.
Am Straßenrand wurden landwirtschaftliche Produkte angeboten, Korbwaren und allerlei kitschige Figuren.
Joanna deutete nach draußen: »Nicht zu glauben, Stanislaw, ich sehe da eine ganze Armee von Gartenzwergen!«
Er lächelte müde. »Warum soll es die nicht auch hier geben?«
Sie runzelte die Stirn, kramte in ihrer Tasche und zog einen Reiseführer hervor. »Den hab ich im Hotel gekauft. Vor meiner Abreise aus Spanien war ja keine Zeit für Vorbereitungen.«
Da er schwieg, fügte sie hastig hinzu: »Versteh mich bitte nicht falsch, natürlich kann es keinen besseren Reiseführer geben als dich, aber es schadet doch nicht, ein paar Dinge nachzuschlagen, oder?«
»Natürlich nicht«, sagte er trocken. »Und was steht dort?«
Joanna blätterte in dem Büchlein. »Mich interessiert unsere Reiseroute von Bukarest nach Transsylvanien mit den verschiedenen Stationen unterwegs.«
»Dann lies doch mal etwas vor.«
Doch statt vorzulesen, ließ sie den Reiseführer sinken und starrte vor sich hin.
»Stanislaw, es ging alles so schnell, die Abreise aus Spanien, unser Wiedersehen hier, da war keine Gelegenheit, darüber zu sprechen. Außer …«, sie senkte die Stimme, »außer, dass ich mich vom ersten Moment an darauf gefreut habe. Inzwischen ist mir aber immer klarer geworden, worauf ich mich eingelassen habe, und zu der ursprünglichen Freude ist etwas anderes hinzugekommen.«
Er nickte. »Du hast Angst.«
»Ja«, jetzt überstürzten sich ihre Worte, »ich habe Angst davor, dich bei etwas zu begleiten, das zu einer Enttäuschung für dich werden könnte, und ich habe Angst davor, selbst enttäuscht zu werden, weil womöglich auch für mich alles anders sein wird als in meiner Vorstellung.«
Sie senkte den Kopf, bis sie seine Berührung spürte.
»Mit all dem magst du recht haben.« Seine Stimme klang sanft. »Deshalb wollte ich nie mehr hierher zurückkehren. Bis ich dir begegnet bin, Joanna. Nur mit dir habe ich mir diese Reise in die Vergangenheit zugetraut.«
Sie ergriff seine Hand und drückte sie an ihre Wange. Schweigend fuhren sie weiter. Etwa vierzig Kilometer hinter Bukarest tauchte ein Straßenschild auf: »Snagov«. Und kurz danach der Hinweis: »Zum See«.
»Vertraust du mir?« Stanislaws Stimme klang verändert.
Sie warf ihm einen raschen Blick zu. »Ja. Warum?«
»Ich möchte mit dir zu diesem See fahren. Steht nichts darüber in deinem Reiseführer?«
»Hhmm, ich weiß nicht, vielleicht habe ich es übersehen«, gab sie verwundert zurück.
Neun
Bei der nächsten Ausfahrt bog er von der Schnellstraße ab. Sie landeten zunächst in einer der Laubenkolonien, die sie im Vorbeifahren gesehen hatten, und fuhren eine schmale asphaltierte Straße mit liebevoll angelegten Schrebergärten entlang. Kleine Holzhäuser und mit Stroh bedeckte Hütten bestimmten das Bild, nur hin und wieder tauchte ein gemauertes Haus vor ihnen auf. Um diese Jahreszeit waren trotz der einbrechenden Dämmerung nur wenige Fenster erleuchtet. Nach ungefähr einer Viertelstunde Fahrt erreichten sie eine Schotterpiste neben einem Waldstück.
»Hört das mit diesen Schlaglöchern irgendwann auf? Bei diesem Geholper kann ich nicht lesen.«
Joanna klappte den Reiseführer zu und versuchte, nicht allzu mürrisch zu klingen, als
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