Hymne an Die Nacht
Physiognomien sprach so deutlich schon auf den ersten Blick gnadenlose Grausamkeit. Schaudernd wandte sie sich ab. Sie wollte fort von diesem Ort.
Doch Stanislaw rührte sich nicht von der Stelle, er schien wie festgewachsen.
Sie zupfte ihn am Ärmel. »Bitte lass uns gehen.«
Aus dem Bereich des Altars, dessen Zugang mit Tüchern verhängt war, näherte sich flackerndes Kerzenlicht. Stanislaw sah Joanna an, als wäre er aus einem Traum erwacht. Sie tastete nach seiner Hand, doch er reagierte nicht, er starrte der dunklen Gestalt entgegen, die wie aus dem Nichts aufgetaucht war und in ihrem schwarzen Gewand den engen Vorraum auszufüllen schien.
Die unheimliche Erscheinung begann zu sprechen und wurde zu einem realen Wesen dieser Welt: »Besucher, um diese Jahreszeit? Das kommt hier nur selten vor. Entschuldigen Sie, falls ich Sie erschreckt habe!«
Der Geistliche hatte die paar Worte in gebrochenem Englisch formuliert. Als Stanislaw ihm auf Rumänisch antwortete, sah Joanna ein Flackern in den Augen des Priesters, das sofort wieder erlosch. Sie betrachtete den Priester genauer. Der Vollbart verdeckte einen großen Teil des Gesichts, aber er musste ein Mann in den Vierzigern sein.
Seine Art zu reden wirkte lebhaft, und während er zu einer der Schautafeln trat, um Stanislaw etwas zu erklären, erschien er ihr wie jemand, der von einer Aufgabe beseelt war. Das gefiel ihr zunächst, doch dann deutete er auf das Porträt des Vlad Tepes, und sie bemerkte den glühenden Eifer in seiner Mimik und Gestik.
In Joannas Kopf drehte es sich unvermittelt, ihr wurde schwindlig. Der Priester schien jetzt von einer rotglühenden Aura umgeben zu sein, aus der ihn schlangenähnliche Wesen umzüngelten. Sie griff sich an die Schläfen, um die Vision zu vertreiben und wandte sich zur Seite. Sofort war Stanislaw bei ihr. »Was ist los? Du bist ganz blass geworden.«
Joanna bemerkte, dass der Priester einige Schritte entfernt von ihr stand und sie fragend ansah. Sein Gesicht wirkte wie eine undurchschaubare Maske.
»Es geht schon wieder«, murmelte Joanna. »Aber sag mir bitte: Worüber habt ihr geredet?«
»Später«, raunte Stanislaw. »Lass uns jetzt von hier verschwinden.«
Der Prior von Snagov drückte ihr beim Abschied mehrere Postkarten in die Hand, dazu einen Prospekt über die Geschichte des Klosters, und schlug vor, jetzt wieder auf Englisch, sie könne ein Foto von ihm machen. Vielleicht zusammen mit ihrem Begleiter?
Joanna bedankte sich hastig und erwiderte, sie müssten gehen, es werde bald dunkel. Stanislaw murmelte etwas auf Rumänisch, es hörte sich nach einem höflichen Abschiedsgruß an. Beim Verlassen der Kirche spürte sie den Blick des Priesters im Rücken.
Erst als sie im Wagen saßen und weiter in Richtung Transsylvanien fuhren, fand Joanna ihre Sprache wieder. Selbst Igor hatte die beiden nach ihrer Rückkehr eher verhalten begrüßt. Statt wie sonst vehement zu wedeln, strich er nur langsam mit seiner langen, rosafarbenen Zunge über Joannas ausgestreckten Handrücken, bis sie seinen Kopf sanft beiseiteschob.
»Stanislaw, ich …«
»Du willst Antworten, und du wirst sie bekommen«, unterbrach er sie, »aber gib mir etwas Zeit.«
Sie nickte. Es würde ihm leichter fallen, darüber zu sprechen, wenn sie diesen Ort hinter sich gelassen hätten. Schweigend und in sich versunken wartete Joanna darauf, dass Stanislaw ihr etwas erklärte, das sich ihr nach wie vor verschloss.
Igor war jetzt so still, dass Joanna sich verstohlen umwandte. Sein Kopf lag auf den Pfoten, die Augen waren geschlossen. Nur in den spitzen Ohren zuckten ein paar Härchen. Joanna fragte sich, was in dem Wolfshund vorging, der seit so langer Zeit Stanislaws Gefährte war. Sie blickte wieder geradeaus, während sie an flachen Getreideflächen vorbeiglitten und trostlos wirkende Dörfer durchquerten.
»Was weißt du bisher über die Geschichte meines Landes?«
Stanislaws Stimme durchschnitt mit einem fremden und verstörenden Ton die Stille zwischen ihnen.
Joanna schreckte hoch. »Nicht viel«, stammelte sie. »Wir haben in der Schule über die Ceaus¸escu-Ära gesprochen, und ich weiß natürlich, dass der Diktator im Jahr meiner Geburt gestürzt und hingerichtet wurde. Tomas hat mir dann einiges über Bukarest und Transsylvanien erzählt, aber in so kurzer Zeit konnten wir das nicht vertiefen.«
»Hat er auch über Vlad Tepes gesprochen?«
»Äh …,ja.«
»Dann weißt du also, welche Rolle er in der Geschichte von
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