Hymne an Die Nacht
geängstigt. Aber ihm müsste sie die Wahrheit sagen.
*
Nach seinem Halt in Südfrankreich war Kyrill weiter die Mittelmeerküste entlanggefahren, bis er über Slowenien den ungarischen Grenzposten Szeged erreichte. Inzwischen war es wieder ganz dunkel geworden. Je mehr er sich seinem eigentlichen Ziel näherte, desto klarer wurde ihm, dass er jetzt einen konkreten Plan benötigte. Während der langen Reise hatte er genügend Zeit zum Nachdenken gehabt, und es gab einige drängende Fragen. Was, wenn Sergio ihn auf eine falsche Fährte geschickt hatte? Womöglich in Stanislaws Auftrag? Das war zwar eher unwahrscheinlich, aber er musste mit dieser Möglichkeit zumindest rechnen.
Wenn es tatsächlich so war, wie der Vampir mit dem Totenkopfgesicht angedeutet hatte, brauchte Kyrill konkretere Informationen. Transsylvanien war ein großes Gebiet, und es war Stanislaws Heimat. Für jemand wie Kyrill war es unbekanntes Terrain, er hatte dort keinerlei Verbindungen. Außerdem wollte er für diese besondere Mission, zu der er aufgebrochen war, keine Mitwisser aus den eigenen Reihen, nachdem dort sein Ansehen durch Stanislaw und Joanna ohnehin schon so gelitten hatte. Er würde allein handeln müssen.
In Gedanken spielte er verschiedene Szenarien durch, kam aber jedesmal zu demselben Ergebnis: Ohne fremde Hilfe würde es nicht gehen, denn er konnte sich nicht auf gut Glück ins Gebiet seines Feindes hineinwagen. Er wusste ja nicht mal, wo genau er die beiden suchen sollte. Bevor er losgefahren war, hatte er im Internet ein bisschen recherchiert und immerhin herausgefunden, dass es einen Ort namens Brasov gab, der als wichtiges Zentrum der Region galt und wegen der Historie zum Pflichtprogramm von Touristen gehörte. Aber das war lediglich ein Anhaltspunkt und ziemlich vage. Außerdem würde ein Porsche »Cayenne« mit spanischem Kennzeichen dort sofort auffallen. Nein, entschied er, so funktionierte das nicht, er würde andere Wege gehen müssen. Die Fähigkeit zu systematischem Denken hatte ihn in der Welt der Sterblichen zu einem erfolgreichen Geschäftsmann werden lassen, sie würde ihm auch in dieser Situation weiterhelfen.
Er lenkte den Wagen in eine Parkbucht und zog sein iPad hervor. Nach mehreren Versuchen hatte er endlich Empfang und kam ins Internet. Rasch fand er, was er gesucht hatte. Anschließend führte er ein kurzes Telefonat und fuhr dann sehr zufrieden mit sich weiter in Richtung Rumänien.
Erst mal in Bukarest angekommen, würde er seinen Porsche bei einem seriösen Autoverleiher unterbringen und ein ganz gewöhnliches geländetaugliches Gefährt mieten, das besser in die rauhe Gebirgslandschaft der Karpaten passte. Danach würde er sich entsprechend ausstaffieren, denn bei seiner überstürzten Abreise hatte er nicht daran gedacht, für die richtige Kleidung zu sorgen.
Als er sich seine Camouflage in allen Details vorstellte, lachte er in sich hinein. Er hatte schon immer eine Vorliebe dafür gehabt, sich zu verkleiden, und wenn es hier nicht um etwas ganz anderes ginge, wäre das Ganze für ihn ein großer Spaß und ein spannendes Abenteuer. So aber würde er in jedem Moment dieser Reise sein eigentliches Ziel vor Augen haben, und er würde alles tun, um es zu erreichen.
Ungefähr um die gleiche Zeit nahm Ewa auf ihrem Handy ein Gespräch entgegen. »Ich habe deinen Anruf schon erwartet, Stanislaw. Du hast sicher verstanden, dass ich in Gegenwart deiner Tochter nicht deutlicher werden konnte.«
»Natürlich«, Stanislaw klang ungeduldig, obwohl er sich das nicht anmerken lassen wollte.
Einen Moment lang kostete Ewa aus, wie es sich anfühlte, wenn ein Vampir vom Wissen einer Hexe abhängig war. Das Verhältnis zwischen Vampiren und Hexen war traditionell voller Spannungen, jede Seite neidete der anderen die Fähigkeiten und Möglichkeiten, die sie selbst nicht besaß.
Argwöhnisch beobachteten die Vampire die Gabe der Hexen, Vergangenes und Zukünftiges zu erschauen, ein Gebiet, das ihnen auf ewig verschlossen bleiben würde. Ewa Lakatos war ein Star ihrer Zunft und hatte es zu großem Wohlstand gebracht, keine geringe Karriere für jemand, der von den Roma abstammte.
Die Hexen betrachteten die Existenz der Vampire ihrerseits mit Gelassenheit, versuchten aber zu verhindern, dass zu viele neue untote Kreaturen geschaffen wurden. Wenn das Gleichgewicht gefährdet schien, griffen sie ein. Die potenziellen Opfer wurden dann durch starke magische Kräfte beeinflusst und aus der Gefahrenzone
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