Hymne an Die Nacht
selbstbewusst, das ist keine leichte Beute für dich. Ihr Vater ist außerdem eine Nummer für sich und scheint sehr über das Töchterchen zu wachen. Aber mach dir selbst ein Bild.«
»Na gut«, sagte Vadim gelassen, »dann lass uns pünktlich anfangen, damit du dich später um deine Gäste kümmern kannst.«
Er betrat seinen Wohnwagen, ließ sich einen großen Becher Kaffee bringen, zündete sich eine Zigarette an und blickte aus dem Fenster. Für die paar Szenen, die sie noch abdrehen mussten, war die Stimmung draußen perfekt. Die Umrisse der Burg waren noch von einem nebligen Gespinst überzogen, hinter dem das angebliche Vampirschloss lediglich zu erahnen war.
Nachdenklich nahm er einen Schluck Kaffee. Dieser Film würde für ihn erneut ein ganz großer Erfolg werden, dessen war er sicher. Der Vampirmythos lebte, obwohl er selbst an nichts davon glaubte und die nach wie vor sehr verbreitete Furcht seiner Landsleute vor den Untoten insgeheim verspottete.
Ihm konnte das egal sein, solange er den neu erfundenen Typus des Vampirs auf der Leinwand überzeugend verkörperte, der jetzt eher als feinfühliger Gentleman mit erlesenen Manieren daherkam und mit den abstoßenden Monstern früherer Zeiten nur noch eines gemeinsam hatte: seine Gefährlichkeit.
Vadim grinste in sich hinein. Konnte man ihm zum Vorwurf machen, dass er den Menschen zu geben vermochte, wonach es sie verlangte?
*
»Willkommen im Dracula-Dorf« stand auf einem Plakat am Ortseingang von Bran. Stanislaw fuhr an den Straßenrand, stellte den Motor des Geländewagens ab und zog den Zündschlüssel heraus. Während er in aufrechter Haltung sitzen blieb, starrten seine Augen auf das dörfliche Geschehen.
Abrupt öffnete er die Autotür.
Joanna war schon ausgestiegen. »Komm«, sagte sie leise und hakte sich bei ihm unter. Während sie sich den Verkaufsständen näherten, verlangsamte sich sein Gang, und zum ersten Mal empfand sie seine physische Präsenz ganz deutlich. Sein Arm fühlte sich jetzt an wie ein schweres Gewicht.
Behutsam ließ sie ihn los. »Bitte sieh mich an«, bat sie ihn, doch er reagierte nicht. »Dann hör mir wenigstens zu«, fuhr sie fort. »Ich habe diesen Alptraum hier nicht erfunden«, sie deutete auf die Verkaufsstände vor ihnen, »aber wenn du mir Transsylvanien zeigen möchtest, dann gehört eben auch das dazu, weil das nämlich die Gegenwart ist und weil es das ist, was die heutigen Menschen aus deiner Geschichte gemacht haben.«
Sie ließ Stanislaw stehen und lief zur nächstgelegenen Andenkenbude. Nachdem sie ein paar Worte mit dem Mann hinter dem Verkaufsstand gewechselt hatte, kehrte sie zurück.
»Ich habe ihn gefragt, ob es einen direkten Weg zum Schloss gibt, ohne dass wir hier hindurchmüssen. Wir seien Journalisten und wollten zu einem Interviewtermin mit Vadim. Der Mann hat gesagt, man könne auf einer Schotterpiste rechts neben dem Souvenirdorf hochfahren, das sei auch der Zugangsweg für die Filmcrew.«
Leise fuhr sie fort: »Ich würde dir das alles hier so gern ersparen, Vater …«
»Bitte«, flüsterte er dicht an ihrem Ohr, »sag es noch einmal …«
Sie trat einen Schritt zurück und sah ihm in die Augen: »Ja, Vater.«
Stanislaw ergriff ihre Hand und zog sie mit sich fort. »Lass uns den direkten Weg nehmen, ich schaffe das schon.«
Ohne nach rechts und links zu sehen, gingen sie an den grellbunten Auslagen und den gestikulierenden Verkäufern vorüber, bis sie einen stillen kleinen Weiher am unteren Ende des Schlossbergs erreicht hatten. Von dort aus, so lasen sie auf einem holzgeschnitzten Schild, seien es zu Fuß noch fünf Minuten bis zur Anhöhe.
Stanislaw und Joanna blieben stehen und blickten hinauf zur Törzburg. Sie war ein prachtvolles Bauwerk, das mit den vielen Winkeln und Türmen, in denen sich zahllose Schießscharten verbargen, nur vordergründig dem Bild eines Vampirschlosses entsprach. In Wahrheit hatte es den Siebenbürger Sachsen einst als Wehrburg gegen die Osmanen gedient.
»Für mich sieht das eher so aus, wie man sich ein Schloss im Märchen vorstellt«, murmelte Joanna, »nicht wie der Wohnsitz eines Vampirs.« Sie spürte Stanislaws Blick von der Seite. »Es ist nicht geheimnisvoll und nicht düster genug. Eindrücklich, aber nicht wirklich furchterregend.«
»Du wärst nicht meine Tochter, wenn du das nicht sofort erkannt hättest. Und vielleicht sehen nur wir beide das so. Aber die meisten anderen wollen in diesem Gebäude nun mal ein Vampirschloss sehen,
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