Hymne an Die Nacht
bedauerte einen Moment lang, dass sie diesen Park nicht lebend verlassen würde. Außerdem hätte er ihr das fassungslose Gesicht ihres treulosen Geliebten gern gegönnt.
Stanislaw erhob sich von der Parkbank und bot der Frau seinen Arm an. In dem Moment tauchte Igor wieder auf, doch er ignorierte seinen Herrn und lief der schmalen Gestalt entgegen, die sich aus der Richtung des Hotels im Laufschritt näherte.
Die junge Frau folgte Stanislaws Blick und verzog spöttisch das Gesicht. »Sie scheinen selbst ja ähnliche Probleme zu haben. Dann eben nicht. Trotzdem, danke für das Angebot. Es war doch ein Angebot, oder?«
»Ja«, murmelte Stanislaw, »das war es. Viel Glück.«
Während sie gemächlich durch die Gartenanlagen auf die nächste Verkehrsampel zuging, blieb Stanislaw reglos stehen, bis Joanna ihn erreicht hatte.
«Wie kannst du nur?«, fauchte sie. Mit einer hilflosen Bewegung hielt sie inne. Igor sprang an ihr hoch, doch sie wehrte ihn ab. »Ist dir denn nicht klar, was passiert, wenn man ganz in unserer Nähe eine junge Frau findet, die überfallen wurde und zwei rätselhafte Bisswunden am Hals aufweist?«
Da Stanislaw nichts erwiderte, fuhr sie fort: »Auf dich würde sehr bald ein Verdacht fallen. Du bist hier ein Fremder mit einem exotischen, adeligen Namen, du hast einen ebenso exotischen Hund dabei, du hast schon bei der Hotelreservierung auf einem total abgedunkelten Zimmer bestanden, du unternimmst nächtliche Ausflüge, von denen du erst in den frühen Morgenstunden zurückkehrst, und, nicht zu vergessen, du befindest dich an einem Ort, wo der Vampirmythos in den Köpfen und Herzen der Menschen nach wie vor existiert! Es würde mich übrigens nicht wundern, wenn bald über dich getuschelt wird, wenn du nicht vorsichtiger bist. Sei froh, dass ich von meinem Zimmer aus gesehen habe, wohin du gehst.«
Er sah in ihr gerötetes Gesicht. So zornig hatte er sie noch nie erlebt, aber er spürte auch ihre Sorge. »Du hast recht«, lenkte er ein. »Lass uns ins Hotel zurückkehren.«
Kurz darauf saß er in seinem Zimmer und starrte hinaus in die Dunkelheit. Was glaubte dieses törichte Geschöpf, wie lange er noch abstinent bleiben konnte? Sie hatte zwar der blonden Rumänin das Leben gerettet, doch erwartete sie ernsthaft, dass er sich weiter ausschließlich mit seinem Spezialgetränk zufriedengeben würde? Natürlich war die »Réserve du Patron« sein Lebenselixir, das er, in Flaschen abgefüllt, immer mit sich führte. Doch es war kein Ersatz für jenes unbeschreibliche Gefühl, das ihn überkam, wenn er die Halsschlagader eines Opfers durchbohrte und ihm gleich darauf die frische warme Flüssigkeit durch die Kehle rann.
Er war zum Gefangenen einer Situation geworden, die er selbst herbeigeführt hatte, er wurde kontrolliert und überwacht von der eigenen Tochter. In Momenten wie vorhin im Park spürte er wieder ihren Abscheu vor dem, was ihn trieb, und er fragte sich, ob sie sich jemals mit diesem Teil ihres väterlichen Erbes versöhnen könnte. Wie sollte er ihr erklären, dass es sich nicht um bewusste Grausamkeit handelte, sondern um etwas, das ihn bis in alle Zeiten beherrschen würde und das nur sehr wenig seinem Willen unterlag?
Er hatte längst gespürt, wie nahe sie einander gekommen waren, aber würde sie ihn jemals wirklich lieben können, wissend, dass er ein Monster in sich beherbergte, das er nicht loswurde?
Resigniert trank er den Rest aus einer angebrochenen Flasche »Réserve du Patron« und schaltete den Fernseher ein.
Zu dieser Jahreszeit waren die Tage kurz, die Sonne sank früh, und der Morgen graute erst, wenn die meisten Menschen schon geschäftig unterwegs waren. Stanislaw, der sich wie alle Vampire mit dem Rhythmus der Sonne bewegte, die es zu meiden galt, hätte sich längst auf seinem Nachtlager ausstrecken können, doch er fand keine Ruhe. Ihn trieb der Gedanke um, was Ewa in Joannas Hand gesehen haben mochte. Hexen wie sie konnten in die Zukunft sehen, Vampire besaßen diese Gabe nicht. Das Wiedersehen mit seiner alten Heimat hatte ihn so sehr beschäftigt, dass er gegenüber den Gefahren, vor denen sie geflohen waren, zu achtlos geworden war.
Er würde Ewa anrufen, denn wenn sie etwas Wichtiges gesehen hatte, müsste sie ihn warnen, das war sie ihm schuldig. Schließlich hatten sie sich auch früher immer gegenseitig geholfen. Dass Ewa in Joannas Gegenwart nicht gleich alles ausgeplaudert hatte, war verständlich, es hätte Joanna vielleicht zu sehr
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