Hymne an Die Nacht
verstohlen um und zog das Fläschchen mit der roten Flüssigkeit hervor. Aus der Pipette gab er ein paar Tropfen in sein Glas, inhalierte den Geruch und nahm einen kräftigen Schluck.
Sie hatte sich an dieses Ritual inzwischen gewöhnt, doch sie fragte sich, wie lange es ihm in dieser Umgebung noch gelingen würde, seine Triebe zurückzuhalten. Vielleicht hätten sie vor Beginn ihrer Reise ein paar Regeln dafür verabreden sollen.
»Wie fühlst du dich?«, fragte sie ihn. Sie nippte an ihrem Cappuccino und betrachtete ihn über den Rand der aufgeschäumten Milchhaube hinweg. Sie fand, dass er ziemlich munter aussah, und wurde misstrauisch. Falls er nachts doch noch einmal draußen gewesen war, hatte sie nichts davon bemerkt. Sie hatte noch ein wenig ferngesehen, dann war sie todmüde ins Bett gefallen und im nächsten Moment eingeschlafen.
»Ganz gut«, sagte er, »die Party hat mir gefallen, es gab viele neue Eindrücke, und für heute Abend hat sich Radu Nicolescu mit mir verabredet. Wir treffen uns gegen halb zehn hier in der Bar.«
Sie nickte erfreut. »Gute Idee. Er ist ein sympathischer Kerl, dazu klug und gebildet.«
»Und was ist mit dir? Radu sagte, du habest Vadims Einladung angenommen.«
»Ja, nachdem wir gestern seine Gäste waren, wäre es wohl sehr unhöflich, ihm eine Abfuhr zu erteilen.«
»Na, dann.«
Sie bemerkte seinen skeptischen Blick, ging aber nicht darauf ein. »Was machst du jetzt?«, fragte sie stattdessen.
»Ich habe in den letzten Tagen Kontakt zu einem hiesigen Historiker aufgenommen, den ich später am Nachmittag treffen werde. Ich hoffe, dass er mir mehr über meine, unsere Familie erzählen kann.«
Sie horchte auf. »Das klingt vielversprechend. Woher kennst du ihn?«
»Über die Universität von Bukarest.«
»Einen solchen Kontakt hätte dir auch Tomas vermitteln können, Tomas Bagoly, schon vergessen? Immerhin ist er Geschichtsprofessor in Klausenburg und der Neffe deiner seltsamen Freundin Ewa. Abgesehen davon, dass du ihn mir als Reiseführer für Bukarest mitgegeben hattest.«
Bukarest, dachte sie, wie lange her erschien ihr diese Episode schon wieder.
Stanislaw ergriff ihre Hände. »Jetzt reg dich mal nicht so auf, was hast du denn auf einmal? Natürlich ist mir dieser Historiker durch Tomas vermittelt worden, das war doch naheliegend. Übrigens lässt er dich herzlichst grüßen.«
Sie wich Stanislaws Blick aus und griff wieder nach ihrer Tasse. »Wie geht es ihm denn?«
Natürlich hätte sie sich seit ihrer Abreise aus Bukarest mal bei ihm melden sollen, dachte sie schuldbewusst, aber dann war sie so vielen neuen Erlebnissen und Eindrücken ausgesetzt gewesen, dass sie es immer wieder vergessen hatte.
»Er ist auf dem Weg in die USA , er hat eine Gastprofessur in Stanford, eine große Chance für ihn als Wissenschaftler. Der Junge hat wirklich Potenzial, denke ich. Irgendwie schade«, sagte er versonnen.
»Schade? Was denn?«
»Nun ja, ich war zwar anfangs etwas eifersüchtig, weil ihr euch offenkundig so gut verstanden habt, aber ich würde dich ehrlich gesagt lieber mit jemand wie Tomas zusammen sehen als mit dieser schillernden Figur, die du heute zum Abendessen triffst.«
Joanna holte tief Luft, verkniff sich aber jede Antwort. Sie nahm ihren Mantel und strich Igor über den Kopf, der sie aus großen Augen ansah. Es zog sie jetzt fort von hier und auch fort von Stanislaw, sie brauchte etwas Zeit für sich allein.
Sie fuhr nach oben, betrat ihr Zimmer und setzte sich mit dem Blick zum Park vor das Fenster. Es war früher Nachmittag, doch man erahnte schon die bald hereinbrechende Dämmerung.
Schillernde Figur hatte ihr Vater ihn genannt, den Mann, mit dem sie sich nun doch am Abend treffen würde. Ihre Begründung, eine Absage wäre unhöflich, nachdem Vadim sie zu seiner Party eingeladen hatte, klang für sie selbst ebenso fadenscheinig, wie sie es offenbar auch für Stanislaw gewesen war. Aber was machte Vadim dann so anziehend?
Schmeichelte es ihr, dass dieser erfolgsgewohnte Schauspieler, der fast jede haben konnte, sie so umwarb? War sie geblendet von der Welt, in der er sich bewegte und in der alles für sie neu und aufregend war? Nein, entschied sie, nichts davon traf auf sie zu. So wenig erfahren sie im Umgang mit der Welt da draußen war, wie Ewa es genannt hatte, so unabhängig war sie tief in ihrem Inneren von solchen Äußerlichkeiten.
Und dann gab sie sich die einzig mögliche Antwort: Vadim war jemand, der etwas in ihr berührt hatte,
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