Hymne an Die Nacht
»Ich weiß es nicht. Es fällt mir schwer, ihn einzuschätzen.«
Er spürte, dass sie die Wahrheit sagte. Da er sich den ganzen Abend lang überwiegend mit Maria beschäftigt hatte, war ihm wohl einiges entgangen. Anfangs hatte er seine Tochter in einem ziemlich intim wirkenden Zwiegespräch mit dem Schauspieler beobachtet, und dann waren auch schon die Zigeuner erschienen und hatten mit ihrer Musik für ein fröhliches Durcheinander gesorgt. Die Musiker waren in den Nebenraum gezogen und die Partygesellschaft mit ihnen. Vadim hatte Joannas Hand genommen und sie zusammen mit ihrem Vater den übrigen Gästen vorgestellt.
Danach hatte Stanislaw sie aus den Augen verloren. »Hat er dich … wie soll ich sagen …«, stotterte er verlegen.
»Du meinst, ob er mich angebaggert hat?«, kam sie ihm zu Hilfe.
»Ja, genau das meinte ich.« Angebaggert, also wirklich!
»Ich will es mal in der dir vertrauten Sprache formulieren: Ja, er hat ein bisschen mit mir geflirtet, aber das war auch schon alles«, flunkerte sie.
»Wirst du ihn wiedersehen?«, fragte er so beiläufig wie möglich.
»Vielleicht. Er hat mich eingeladen, morgen Abend noch einmal nach Poiana Brasov zu kommen. Er möchte mich in sein Lieblingsrestaurant ausführen.«
Beide schwiegen, bis sie fortfuhr: »Natürlich weiß er, dass ich alt genug bin, um dich nicht um Erlaubnis fragen zu müssen, aber er legt offenbar Wert darauf, dass du einverstanden bist.«
»Hhmm. Dann schlage ich vor, dass du eine Nacht darüber schläfst und dich morgen entscheidest.«
Erleichtert über seine diplomatische Antwort hatte er es jetzt eilig, zum Hotel zurückzukommen. Er wollte über Verschiedenes nachdenken. Das konnte er am besten oben bei den Wölfen, deren vertrautes Geheul ihn zurückrief, seit er ihnen begegnet war.
Es war nicht leicht gewesen, Igor zu beschwichtigen, den er im Hotelzimmer lassen musste. Bei dem, was er vorhatte, konnte er seinen Gefährten nicht gebrauchen. Er hatte seine ganze Autorität einsetzen müssen, um ihm das klarzumachen, und Igor, der jedes seiner Worte verstand, hatte sich schließlich resigniert auf seinem Lager zusammengerollt, ohne ihn auch nur noch eines Blickes zu würdigen.
Gleichzeitig hatte Stanislaw auf die Geräusche aus dem Nachbarzimmer gelauscht, wo Joanna zunächst den Fernseher eingeschaltet hatte. Sobald er das Rauschen ihrer Dusche vernommen hatte, war er lautlos auf den Flur getreten. Er wusste nicht, ob er wieder auf die Wölfe stoßen würde oder ob sie inzwischen weitergezogen waren, letztlich war das nicht wichtig. Falls sie noch in der Nähe wären, würde einer von ihnen sein Opfer werden, falls nicht, hätte er andere Möglichkeiten, seinen Durst zu befriedigen.
Neunzehn
Vadim war schon auf, als Cornel ihn mit dem Frühstückstablett wecken wollte. Im Bademantel und mit dem Handy am Ohr bedeutete er ihm, das Tablett auf dem Tisch abzustellen, und dankte ihm mit einem Nicken.
»Radu, du altes Wildschwein«, säuselte Vadim ins Telefon, »du hast dir gestern ja so richtig die Kante gegeben. Wie …? Weil du Frust ablassen musstest? Meinetwegen? Ich bitte dich, wir haben zusammen einen großartigen Film abgeliefert, von dem die Welt noch reden wird. Was, bitte? Nein, das meinst du jetzt nicht im Ernst. Egal, es war doch eine tolle Party. Was sagst du? Kokslinien, die mitten auf den Tischen angeboten wurden? Doch nicht bei mir, Radu! Und wenn, war ich schon längst nicht mehr dabei. Schließlich kann ich nicht alles überwachen, was bei mir geschieht, ich habe meine Augen ja nicht überall.«
Vadim trank einen Schluck Tee und sagte in verändertem Tonfall: »Ich möchte dich um einen Gefallen bitten. Nein, nicht, was du denkst, es geht um etwas Seriöses. Hättest du nicht Lust und Zeit, heute Abend mit diesem ungarischen Grafen, ja, genau, dem Vater der liebreizenden Joanna. Also, könntest du dich nicht mit ihm zum Essen verabreden? Ich weiß, dass er dich schätzt, und zwischen euch gäbe es doch bestimmt manches zu bereden. Ihr gehört ja mehr oder weniger derselben Generation an, und es könnte für beide Seiten ein sehr interessanter Gedankenaustausch sein, glaubst du nicht?«
Erneut lauschte Vadim in den Hörer hinein. »Danke«, sagte er schließlich, »ich weiß doch, dass ich mich auf dich verlassen kann. Wie …? Weshalb? Weil ich seine Tochter in Poiana Brasov zum Essen ausführen möchte, und da wäre es doch nett, wenn der Vater auch etwas anregende Gesellschaft hätte, oder?«
Mit
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