Hypnose
erstarrte Inka. Sie war leer. Strampler, Schnuller, die selbst gestrickten Schühchen, die Spieluhr, das Kettchen mit Jonas’ Namen und der Teddybär – alles, was sie an Willkommensgeschenken für die Ankunft ihres kleinen Engelchens auf Erden vorbereitet hatte, war verschwunden. Ihr stiegen die Tränen auf, und sie musste sich abwenden.
Außer ihr und Peter wusste niemand von diesem symbolischen Begräbnis im eigenen Garten. Es sei denn, Peter hatte es noch jemandem erzählt. Ihm selbst traute sie nicht zu, dass er dieses Zeugnis ihrer Trauer angerührt hatte. Weshalb auch?
Es war schrecklich, ein Fremder war tatsächlich in ihrem Garten gewesen – keine zehn Schritte von ihrem Wohnzimmer entfernt! Er hatte sich darangemacht, diese Reliquien ans Tageslicht zu befördern und für sein krankes Spiel zu missbrauchen. Er war ihr viel zu nah gekommen.
Inka hetzte zurück ins Haus und erzählte Rebecca alles.
»Dieses Schwein«, stöhnte Rebecca und atmete heftig. »Inka, mir ist nicht gut, ich glaube …« Sie schaffte es gerade noch rechtzeitig zur Toilette.
Als sie wieder herauskam, reichte Inka ihr ein Glas Wasser. Rebecca verschluckte sich und bekam einen furchtbaren Hustenanfall.
Inka klopfte ihrer Freundin sanft auf den Rücken, bis sie sich wieder beruhigte. »Fahr nach Hause, Rebecca. Ich ruf dir ein Taxi. Ich komme hier schon alleine klar.«
»Nein … nein …« Sie sah mitgenommen aus. »Peter geht davon aus, dass …«
»Peter wird gegen zehn, elf Uhr nach Hause kommen, also bin ich nicht allein heute Nacht. Und jetzt wird nichts mehr passieren. Es ist schon so viel vorgefallen heute …« Inka nahm all ihren Mut zusammen.
Rebecca nahm ihre Basttasche. »Meinst du wirklich …?«
Inka nickte tapfer. Insgeheim hoffte sie, dass Rebecca blieb, wollte ihr aber die Entscheidung überlassen.
Inka hatte schon das Telefon in der Hand, um ein Taxi zu rufen, als Rebecca den Kopf schüttelte.
»Nein, ich bleibe da. Ich habe es Peter versprochen.«
Inka war erleichtert. Es bedeutete auch, dass Rebecca die Vorfälle ernst nahm. Inka hatte ihren eigenen Mut ganz klar überschätzt, sie hatte sich selbst einreden wollen, dass die Lage nun in Ordnung war. Doch nichts war in Ordnung.
Sie gingen zurück ins Wohnzimmer und setzten sich auf die Couch. Schweigsam schauten sie hinaus in den Garten. Sie wollte Peter nicht anrufen, ihn nicht beunruhigen. Die Erlebnisse erst einmal sacken lassen.
Was hatte sich dieser Mensch nur dabei gedacht, einem Teddy ein Messer in die Brust zu stechen? Wozu war er noch fähig? Zog er einen Lustgewinn daraus, dass er seine Opfer quälte? Sie spürte, wie sich eine große Entschiedenheit in ihr breitmachte.
Na warte , dachte sie voller Bitterkeit, dich finde ich . Mit mir spielst du nicht. Das schwöre ich dir beim Gedenken an meinen Soh n !
✴
Inka schreckte aus dem Schlaf hoch. Jemand zerrte an ihrem Bein. Sie rappelte sich auf, und dabei fiel das Buch über Hypnose auf den Boden, in dem sie den ganzen Abend mit Hochspannung gelesen hatte, bis die letzte schlaflose Nacht doch ihren Tribut gefordert, und die traumlose Müdigkeit sie übermannt hatte. Rebecca saß am anderen Couchende, der Fernseher zeigte stumme Bilder irgendeiner Spielshow.
Rebecca betätigte den Dimmer der Stehlampe, und Inka schirmte ihre Augen gegen das Licht ab. »Wie viel Uhr ist es? Ist Peter da?«
»Nein, noch nicht. Es ist kurz vor halb elf, du hast auch nur eine Dreiviertelstunde geschlafen – Inka, ich muss dir unbedingt etwas sagen. Ich habe die ganze Zeit über diese Zahlenfolge in der Spielanleitung nachgedacht. Das hat mich nicht losgelassen. Dann kam mir eine Idee, und ich habe es überprüft. Das ist eine Signatur aus der Landesbibliothek!«
Inka blinzelte sie verständnislos an.
Rebecca hielt ihr die Spielanleitung hin. »Die Zahlenfolge – das ist eine unserer typischen Buchsignaturen! Ich habe auf meinem Handy die Signatur im Online-Katalog eingegeben, und bingo!«
Jetzt war Inka hellwach und setzte sich auf. »Du meinst das hier: Ich würfle die drei, die vier, dann springe ich über das Hindernis, danach folgen zweimal die fünf und einmal die zwei?«
»Ja! Das ist eine unserer Numerus Currens-Signaturen.«
Inka zog fragend die Augenbrauen hoch. »Was?«
»Die laufende Nummer. Wir sortieren unsere Bücher nicht nach Inhalt, sondern nach Erwerbsdatum. Bei einem jährlichen Zuwachs von rund einhunderttausend Titeln wäre das sonst kaum machbar. Deshalb werden die
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