Iacobus
Menschen leben, weshalb die Obrigkeiten schwere Ketten am Ende der Straßen anbringen mußten, um sie absperren zu können und damit den Verkehr von Menschen, Wagen und Reitern zu regeln. Nie zuvor habe ich in irgendeiner Stadt eine so schreckliche Betriebsamkeit erlebt wie in Paris, und ich habe in meinem Leben schon viele Städte gesehen; es vergeht kein Tag, an dem nicht irgend jemand unter die Räder eines Wagens gerät. Natürlich sind bei einem solchen Tumult Diebstähle so häufig an der Tagesordnung wie das Pater Noster, und man muß sehr aufpassen, daß einem nicht der Beutel mit Gold gestohlen wird, ohne daß man es merkt. Und um die Auflistung der Mißstände in Paris abzuschließen, bleibt zu sagen, daß, wenn es etwas gibt, was hier neben den vielen Menschen ebenfalls noch im Überfluß vorhanden ist, es die Ratten sind, Ratten so riesig wie Spanferkel. Jedweder Tag in dieser Stadt kann anstrengend sein.
Mitten in diesem Wahnsinn mußte ich eine Frau namens Beatrice d'Hirson finden, ihres Zeichens Gesellschaftsdame von Mathilde d'Artois, der Schwiegermutter des französischen Königs Philipp V. des Langen. Bei näherer Überlegung nützten mir die vom valencianischen Montesa-Orden ausgestellten Geleitschreiben recht wenig, um von einer Dame wie Beatrice d'Hirson empfangen zu werden, die, auch wenn sie anscheinend über keinen Titel verfügte, doch vom französischen Altadel abstammen mußte, um den Rang einer Gesellschaftsdame der mächtigen Mathilde bekleiden zu können. Ich grübelte eine ganze Weile darüber und kam schließlich zu dem Schluß, daß ich ihr am besten ein Schreiben schicken sollte, in dem ich mit erlesenem Feingefühl durchblicken ließ, daß mein Interesse, sie zu sehen, mit irgendeiner Sache bezüglich ihres ehemaligen Geliebten Guillaume de Nogaret zu tun hatte. Wenn ich mich in meinen Vermutungen nicht täuschte, so würde dies eine unmittelbare Einladung zur Folge haben.
Ich schrieb den Brief mit größter Sorgfalt und sandte Jonas dann zur Ile-de-la-Cité, damit er ihn, falls möglich, persönlich überreichte; ich wollte nicht, daß mein Schreiben in die Hände von irgend jemand x-Beliebigem fiel. Währenddessen verbrachte ich den Vormittag damit, meine Aufzeichnungen durchzusehen und mir die folgenden Schritte zu überlegen. Es drängte sich geradezu auf, dem Waldstück von Pont-Sainte-Maxence wenige Meilen nördlich von Paris einen raschen Besuch abzustatten, um persönlich den Ort in Augenschein zu nehmen, wo, wie man sich erzählte, der Vater des gegenwärtigen Königs, Philipp IV. der Schöne, vom Pferd gefallen und von einem riesigen Hirsch angegriffen worden war. Laut den Berichten, die mir Seine Heiligkeit zur Verfügung gestellt hatte, war der König am Morgen des 26. November 1314 in Gesellschaft seines Kämmerers Hugo de Bouville, seines persönlichen Sekretärs Maillard und einiger Verwandter in den Wäldern von Pont-Sainte-Maxence auf die Jagd gegangen. Als man ankam – der König kannte jene Gegend gut, da er dort des öfteren jagte –, machten sie die Bauern darauf aufmerksam, daß in der Umgebung bereits zweimal ein seltsamer zwölfendiger Hirsch mit einem herrlich gräulichen Fell gesichtet worden wäre. Der König, begierig, ein solch eindrucksvolles Stück Wild zu erlegen, machte sich mit einem solchen Eifer an seine Verfolgung, daß er sein Gefolge schließlich weit hinter sich ließ und sich im Wald verlor. Als man ihn etliche Zeit später fand, lag er auf dem Waldboden und stammelte fortwährend »Das Kreuz, das Kreuz …« Man brachte ihn sofort nach Paris, obschon er bat – er konnte kaum noch sprechen –, man solle ihn in sein geliebtes Schloß nach Fontainebleau bringen, wo er geboren worden war. Das einzige Anzeichen von Gewalt, das die Ärzte an seinem Körper entdecken konnten, war eine Beule am Hinterkopf, die er sich höchstwahrscheinlich bei seinem Sturz vom Pferd und dem Angriff des Hirsches zugezogen hatte. Er verschied nach zwölf Tagen Demenz, während denen er immerzu nur nach Wasser verlangte, und als er starb, wollten sich seine Augen zum Entsetzen aller Anwesenden und des ganzen Hofes nicht schließen. Gemäß der sich in meinem Besitz befindenden Abschrift vom Bericht des französischen Großinquisitors Rénald, der dem König in seinen letzten Tagen beigestanden hatte, öffneten sich die Lider des verstorbenen Monarchen ein ums andere Mal, weshalb man ihm schließlich eine Binde anlegen mußte, bevor man ihn beerdigte.
Mir
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