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Iacobus

Iacobus

Titel: Iacobus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Matilde Asensi
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war klar, daß jene Dokumente viele Fragen aufwarfen, die ohne Antwort blieben: warum der König nicht sein Jagdhorn blies, als er vom Hirsch angegriffen wurde, wo eigentlich die Hundemeute war, wer zuvor jenen Hirsch mit dem unmöglichen Geweih gesehen hatte, ob irgend jemand dieses Tier nach dem Unfall wirklich erlegt hatte, wie der König sich in einer Gegend verirren konnte, die er anscheinend sehr genau kannte … Betrachtete man die Symptome, die sich bei ihm zeigten, wie Durst, mangelnde Ausdrucksfähigkeit, Wahnsinn, rebellische Lider, so paßten sie gut zu dem Schlag auf den Kopf. Ich hatte über Fälle von Patienten gelesen, die nach einem solchen Sturz zwar wieder zu sich kamen und nicht daran starben, deren Wesen danach jedoch vollkommen verändert war, oder die den Verstand verloren hatten, oder ständig und ganz mechanisch sinnlose Wörter oder Bewegungen wiederholten, oder Wahnvorstellungen hatten, oder einen derart großen, unersättlichen Hunger bekamen, der sie schließlich umbrachte, oder auch, wie im Fall des Königs, einen unerträglichen Durst. Indessen war es nicht das, was mich beunruhigte: Der Schlag auf den Kopf war ganz offensichtlich die Todesursache gewesen; aber was bedeutete ›Das Kreuz, das Kreuz …‹? Welches Kreuz meinte der König?
    Jonas kam einige Stunden später wieder zurück. Das Hemd hing ihm aus dem Wams, die Strümpfe waren schlammverkrustet und seine Wangen gerötet.
    »Was bringst du mir für Neuigkeiten?« fragte ich ihn lächelnd.
    »Paris ist die schönste Stadt der Welt!« rief er aus und warf sich der Länge nach auf seinen Strohsack.
    »Hast du etwa ein hübsches Mädchen kennengelernt?«
    Er hob ein wenig den Kopf und warf mir einen vorwurfsvollen Blick zu.
    »Noch bin ich Novize.«
    »Anscheinend nicht mehr lange«, bemerkte ich und legte meine Schreibfeder und das scalpellum beiseite. »Konntest du Beatrice d'Hirson den Brief überreichen?«
    »Es war schrecklich! Ich drang bis zum Schloß vor, das man La Conciergerie nennt und wo der Hof wohnt. Das wahrhaft schönste Bauwerk Frankreichs, Sire! Die Wachen am Gitter verwehrten mir natürlich den Zutritt, weshalb ich sie bat, sie möchten doch besagte Dame benachrichtigen, da ich eine wichtige Botschaft für sie hätte. Zuerst lachten sie mich aus, aber angesichts meiner Beharrlichkeit schickten sie zu guter Letzt einen Knappen zu ihr. Es dauerte eine halbe Ewigkeit, bis er zurückkam, um mir auszurichten, daß die Dame mich nicht empfangen könne, da sie weder wüßte, wer ich sei, noch wer Ihr seid, Sire. Ich verstehe ehrlich gesagt nicht, warum Ihr mir so unbedarft eine so komplizierte Mission übertragen habt«, meinte er schlechtgelaunt. »Wißt Ihr denn nicht, daß einem der Adel nicht ohne weiteres Zugang gewährt?«
    »Der Adel, mein lieber Jonas, der wirkliche Adel, hat nicht viel mit diesen Höflingen zu tun.«
    »Nun denn, Sire, Höflingen kann man jedenfalls solche Botschaften auch nicht einfach so überbringen.«
    »Und wie hast du das Problem dann gelöst?«
    »Woher wißt Ihr, daß ich es gelöst habe?«
    »Weil du dich im gegenteiligen Fall ganz anders verhalten hättest. Erstens wärst du nicht mit einem so fröhlichen Gesicht hier hereinspaziert, und zweitens würdest du mir deine Odyssee nicht in diesem vorwurfsvollen Ton erzählen, wenn sie nicht von Erfolg gekrönt gewesen wäre. Auf diese Weise betonst du deinen Sieg.«
    »Was ist eine Odyssee?«
    »Donnerwetter, Jonas! Wie ungebildet du bist! Hast du denn im Kloster nicht das wunderbare ›De bello Troiano ‹ von Iosephus Iscanus gelesen oder die bekannte Übersetzung der homerischen Ilias, ›Ilias Latina‹, von Silius Italicus, die sogar die Vaganten an den Universitäten rezitieren?«
    »Wollt Ihr das Ende meiner Geschichte nun hören oder nicht?« unterbrach er mich verärgert.
    »Ja, ich will, aber an einem der nächsten Tage müssen wir einmal ernsthaft über deine Erziehung sprechen.«
    »Nun gut, eine ganze Weile lang strich ich also durch die Cité, sah mir die Baustelle der neuen Kathedrale von Notre-Dame an, besichtigte die Kapellen von St.-Denis-du-Pas und St.-Jean-le-Rond, auf deren Stufen des Nachts Kinder wie ich ausgesetzt werden. Wußtet Ihr das?«
    »Woher sollte ich das wissen?«
    »Schön … Nach einer Weile kehrte ich dann zur Conciergerie zurück, um mich von dort nicht mehr wegzubewegen, bis sich eine geeignete Gelegenheit ergäbe, die Botschaft zu überbringen. Da ich mich langweilte, setzte ich mich neben eine

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