Iacobus
höchsten Punkt leitete, dem Portus Asperi oder Summus Portus, wo der eigentliche Jakobsweg begann. Kaum hatten wir jedoch den Gipfel erreicht, fiel Jonas in Ohnmacht, vollkommen erschöpft durch den Aufstieg, das Gewicht unseres bescheidenen Besitzes und die Tage des Fastens.
Glücklicherweise befand sich bergabwärts in nächster Nähe das Hospital de Santa Cristina, eines der wichtigsten Pilgerhospize der Welt, das neben dem Hospiz auf dem Sankt Bernhard und dem Hospital von Jerusalem, welches mein Orden unterhielt, eine der unabdingbaren Säulen war, die Gott zur Unterstützung der Armen errichtet hatte, wie schon der Kompilator des ›Codex Calixtinus‹, Aimeric Picaud, feststellte. Während sich Jonas dort von seinem Martyrium und seinem Wunsch, die ›Dornenkrone der Auserwählten‹ zu tragen, erholte, suchte ich in der Herberge des nahegelegenen Dorfs Canfranc Unterkunft.
Der Medikus von Santa Cristina, der Jonas untersuchte, meinte, daß er mindestens zwei Tage Ruhe brauchte, um wieder zu Kräften zu gelangen und die Pilgerreise fortsetzen zu können. Meiner bescheidenen Ansicht nach hätten ein guter Eintopf mit viel Fleisch und Gemüse sowie zwölf Stunden Schlaf gereicht, um ihn vollkommen wiederherzustellen; aber da ich ja angeblich nur ein edler Ritter war, der in Armut nach Santiago de Compostela pilgerte, um alte Ehrenschulden zu begleichen, stand es mir nicht zu, ein medizinisches Urteil zu fällen.
Weil ich nichts anderes zu tun hatte, machte ich mich am nächsten Tag frühmorgens auf den Weg nach Jaca. Den breitkrempigen Hut hatte ich fast bis über die Augen gestülpt; ich erinnere mich, daß an jenem Tag die Sonne noch stärker brannte als während unserer ganzen bisherigen Reise. Ich wollte die Gegend genau erkunden und mir kein Detail entgehen lassen, das mir nützlich sein könnte. Ich sagte mir, daß logischerweise dort, am Anfang des Weges, die ersten Zeichen beziehungsweise notwendigen Schlüssel zu deren Deutung zu finden sein müßten. Seitens der fratres militiae Templi wäre es absurd gewesen, große Schätze entlang einer vielbereisten Pilgerstraße zu verstecken, ohne an deren Anfang die notwendige Geheimsprache einzuführen, um sie zu bergen.
Ich verließ den Lauf des Río Aragón, um mir Villanúa näher anzuschauen. Ich weiß nicht genau, was mich dazu führte, dort haltzumachen, doch erwies es sich als glückliche Fügung, denn im Innern der kleinen Dorfkirche entdeckte ich das Bildnis einer schwarzen Madonna. Große Freude überkam mich und erfüllte mein Herz mit Jubel. Die Erde, die Magna Mater, strahlt ihre ureigenen, inneren Kräfte durch Adern aus, die unter der Erde verlaufen. Die untergegangenen Kulturen hatten diese Ströme ›Erdschlangen‹ genannt und schwarze Farbe verwendet, um sie abzubilden. Die schwarzen Madonnen sind Symbole, Zeichen, welche diejenigen, die sie zu deuten wissen, auf die Orte hinweisen, wo diese inneren Kräfte mit größter Wucht hervorquellen. Heilige, archaische Orte, wunderbare Orte der Spiritualität. Würde der Mensch eines Tages nicht mehr im direkten Kontakt zur Erde stehen und daher nicht mehr ihre Energie aufnehmen, würde er auf alle Zeiten den Halt verlieren und nicht mehr Teil des wahren Wesens der Magna Mater sein.
Ich weiß nicht, wie lange ich dort unbeweglich und in Gedanken versunken verharrte. Für einige Stunden fand ich mein Gleichgewicht wieder, fühlte mich wieder als der Galcerán, der Rhodos verlassen hatte, um seinen Sohn zu finden und neues medizinisches Wissen zu erwerben. Ich fand den inneren Frieden wieder, meine inspirierende Gelassenheit, aus der wie ein Gebet der schöne Vers des Sufi-Dichters Ibn Arabi sproß: »Mein Herz birgt alles …« Ja, sagte ich mir, in meinem Herzen ist alles geborgen.
Jaca erreichte ich an jenem Tag natürlich nicht mehr, dafür am darauffolgenden, als ich Villanúa links liegen ließ und den Fluß auf der steinernen Brücke überquerte. Dem Jakobsweg folgend, betrat ich durch das San-Pedro-Tor die Stadt, die mir sauber und freundlich, wenn auch ausgesprochen laut vorkam. Man hielt gerade Markt ab, und die Menschen drängten sich unter Stößen, Flüchen und Streitereien auf dem Platz und unter den Arkaden zusammen; es herrschte ein ohrenbetäubender Lärm und fürchterliches Durcheinander. Doch all diese Eindrücke verblaßten, als ich plötzlich das Tympanon über dem Westportal der Kathedrale entdeckte, durch das die Pilger strömten, um im Kircheninnern vor der Skulptur des
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