Iacobus
Apostels und den Reliquien der Märtyrerin und Stadtpatronin Santa Orosia ihre Gebete zu verrichten.
Nicht das prächtige, achtarmige Christusmonogramm versetzte mich jedoch in Erstaunen, sondern die beiden großartigen Löwen, die es flankierten – zumal sie so vollendet dargestellt waren, wie ich es nur selten gesehen habe –, denn die beiden brüllten demjenigen, der sie hören konnte, zu, daß jene Kirche etwas enthielt, etwas so Wichtiges und Heiliges, daß man seine fünf Sinne zusammennehmen sollte, wenn man sie betrat.
Die Bedeutung des Löwen liegt im Zeichen der Sonne, er ist eng verbunden mit dem Licht. Der Löwe steht außerdem an fünfter Stelle im Tierkreis; zwischen dem 23. Juli und dem 22. August, der heißesten und hellsten Zeit des Jahres, geht die Sonne durch dieses Zeichen. In der universellen Symbolik ist der Löwe der heilige Wächter des geheimen Wissens, dessen kryptische Darstellung die schwarze Schlange ist. Und es war gerade eine Schlange, die sich unter dem Löwen auf der linken Seite des Christusmonogramms wand. Schützend war er über eine menschliche Figur gestellt, welche die Schlange festhielt. Der Löwe auf der rechten Seite zermalmte mit seiner Tatze den Rücken eines Bären, Symbol des Alters und des Todes. Das Interessanteste daran war indessen die am Fuß des Tympanons angebrachte Inschrift:
Visere si queris qui mortis lege teneris. Huc splicando veni renues fomenta veneni. Cor viciis munda, pereas ne morte secunda.
Wenn Du, gehalten vom Gesetz des Todes, verlangst zu leben, komm hierher zu flehen, absagend giftigen Speisen. Reinige das Herz von Lastern, damit Du nicht des zweiten Todes stirbst.
Worauf sonst sollte sich dieser Aufruf beziehen als auf den Beginn der Initiation? War Jaca etwa nicht die erste Stadt am Heiligen Weg, der durch die Sterne am Himmel vorgezeichnet und seit Anbeginn der Welt schon von Millionen Menschen bereist worden war? Santiago war nichts weiter als die christliche Deutung eines heidnischen Phänomens aus fernen Tagen. Lange vor Christi Geburt in Palästina pilgerte die Menschheit schon unermüdlich zu dem Ort, der als Finisterrae , das Ende der Welt, bekannt war.
Welch tiefes Geheimnis barg die Kathedrale von Jaca in ihrem Inneren? Ich hatte keine andere Wahl; ich mußte sie betreten und mich umsehen, denn die Löwen konnten zwar darauf aufmerksam machen, es aber niemals lüften. Ich suchte das ganze Gotteshaus ab, schnüffelte in jedem Winkel herum, nahm jedes Becken, jeden Stützpfeiler und Quader in Augenschein, bis ich schließlich neben dem Kreuzgang in der Kapelle der heiligen Orosia darauf stieß: In einer dunklen Nische verborgen hing das winzige Bildnis einer thronenden Gottesmutter, die ein Kreuz in der Form eines Tau trug. Das Tau! Zwar war es ein Abbild der Heiligen Jungfrau, doch habe ich nie eine weniger mit den Insignien ihrer Würde geschmückte Marienfigur gesehen: Dort thronte eine junge Frau in höfischen Gewändern, das Haupt mit einer gewöhnlichen Herzogskrone geschmückt, ein spöttisches Lächeln umspielte ihre Lippen. Ihr gesamtes Erscheinungsbild, die aufrechte Haltung, ihre Beine, die sich gegen den Boden stemmten, um das Gewicht des Kreuzes zu halten, und diese Art, genau am Rand des Throns zu sitzen: Ihr ganzer Habitus war darauf ausgerichtet, das Tau zur Schau zu stellen. Sie beugte sich nach vorn, als ob sie sagen wollte: »Seht genau hin, schaut Euch dieses Kreuz an; denn es ist kein Kreuz, sondern ein Zeichen, betrachtet es, ich halte es Euch direkt unter die Nase.« Ich nahm alles Gesehene genau zur Kenntnis und machte mich danach fröhlich auf den Rückweg zu meiner Herberge.
Als ich am nächsten Tag kurz nach der Morgendämmerung ins Hospital de Santa Cristina kam, um Jonas abzuholen, schlief dieser noch bäuchlings auf seinem Strohsack, als ob ihn ein Pfeil mitten im Rücken getroffen hätte und er so verrenkt auf die Nase gefallen wäre. Leise schlich ich näher, um die anderen Kranken im Saal nicht zu wecken, und atmete freudig die saubere, gesunde Luft ein. Ich konnte nicht umhin, an mein Spital auf Rhodos zu denken, das ebensogut gelüftet und reinlich war wie dieses. Wie sehr ich mein Zuhause vermißte! Die Erinnerungen daran begannen jedoch schon zu verblassen, und zum ersten Mal überkam mich das dunkle, unerklärliche Gefühl, daß ich nie wieder dorthin zurückkehren würde.
Von der Pritsche neben Jonas starrte mich ein seltsam aussehender Alter aus rabenschwarzen, leuchtenden Augen an. Nach
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