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Titel: iBoy
Autoren: Kevin Brooks
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passiert war, nicht ungeschehen machen, aber wenn die Täter geschnappt und bestraft würden, konnte das vielleicht jemand anderen davor bewahren, dass ihm dasselbe geschah.
    Aber
, fragte ich mich weiter,
wenn du Ben fast dafür verachtest, dass er die Namen nicht preisgeben will, was ist dann mit Lucy? Wieso verachtest du sie nicht auch?
    Darauf wusste ich keine Antwort.
    Zu Ben sagte ich: »Hast du weiter Schwierigkeiten mit den Crows?«
    Er schüttelte den Kopf. »Nicht wirklich   … die drohen mir nur, verstehst du? Halt die Fresse, sonst   … so was eben.«
    »Was ist mit den FGH?«
    »Was soll mit denen sein?«
    »Hängst du noch mit ihnen rum?«
    »Nein.« Er sah mich an. »Du hast doch nicht vor, irgendwas zu unternehmen?«
    »Nein«, sagte ich. »Nein, ich hab nicht vor, irgendwas zu unternehmen.«
     
    Ich war wirklich wütend, als ich Lucys Wohnung verließ. Mir war nicht ganz klar, worüber ich eigentlich so wütend war – über Bens Schlaffheit, über die Brutalität der Crows, über das |69| ganze dumme Gerede, dass man sowieso nichts tun kann   … vielleicht war es ja auch eine wirre Mischung aus allem zusammen.
    Auch wenn mir der Grund wie gesagt unklar war, spürte ich, als ich die Wohnung verließ und den Flur entlang Richtung Fahrstuhl ging, wie diese aufgestaute Wut in mir hochkochte. Meine Wunde begann zu pochen, meine Haut glühte und in meinem Schädel kribbelte es   … und dann hörte ich in meinem Kopf Stimmen   …
    Stimmen, die über Handy sprachen.
    Es gab einen Moment, unmittelbar bevor die Stimmen für mich deutlich wurden, da schienen sie Teil einer riesigen Wolke anderer Stimmen zu sein: Millionen und Abermillionen Menschen, die alle gleichzeitig sprachen. Aber dann lösten sich zwei Stimmen aus dieser gewaltigen wirbelnden Wolke, wie zwei Vögel aus einem riesigen Schwarm, und plötzlich konnte ich nicht nur die beiden Einzelstimmen in aller Deutlichkeit hören, sondern ich wusste auch, wem sie gehörten und woher sie kamen.
    Ja, der Harvey-Typ
, sagte die erste Stimme.
Ich glaube, er kennt sie. Er ist vor ungefähr einer Stunde zu ihr hochgefahren.
    Es war Jayden Carroll, der Junge, den ich vorher im Fahrstuhl gesehen hatte. Er rief unten vom Erdgeschoss aus an.
    Ja und?
, antwortete die zweite Stimme.
Sie wird ja wohl nichts sagen, oder?
    Und das war Eugene O’Neil. Er befand sich im dritten Stock vom Disraeli House.
    Ich wollte nur, dass du Bescheid weißt, sonst nichts
, sagte Jayden.
Ich dachte, du willst vielleicht –
    Ja, ist gut. Ist er noch oben?
    |70|
Keine Ahnung –
    Dann geh rauf und schau nach. Wenn er weg ist, schnapp dir den Bruder   … wie heißt der noch?
    Ben.
    Ja, richtig. Quetsch ihn aus, was Harvey wollte, und erinner ihn, dass er die Klappe zu halten hat.
    Wer, Harvey?
    Nein, fuck, der Bruder. Sag ihm einfach noch mal, was wir ihm schon gesagt haben. Klar?
    Ja.
    Dann los.
    Okay.
    Damit endete das Gespräch.
     
    Als ich vor der Fahrstuhltür stand und wartete, dass Jayden Carroll hochkam, spürte ich, wie sich langsam dieses Pochen/ Kribbeln/Flimmern in meinem Kopf ausbreitete. Kopf, Nacken, Arme, Brust   … alles fühlte sich auf einmal merkwürdig an – irgendwie glühend, warm und sirrend.
    Ohne nachzudenken, zog ich die Kapuze von meiner Jacke hoch. Jetzt kam der Fahrstuhl nach oben. Ich wusste nicht, was ich tun würde, wenn er ankam, aber ich wusste, irgendwas
würde
ich tun.
    Während die Zahlen der Stockwerke über der Fahrstuhltür aufleuchteten – 20, 21, 22   –, starrte ich auf mein Spiegelbild in dem glänzenden Türstahl. Das Metall war zerkratzt, voller Graffiti und schmutzig, deshalb konnte ich mein Spiegelbild nicht gerade deutlich und klar erkennen. Aber es reichte, um festzustellen, dass die Kapuzengestalt, die ich sah,
niemandem
ähnelte. Das Gesicht –
mein
Gesicht – pulsierte, flackerte und strahlte vor Farben, Formen, Wörtern, Zeichen   … meine |71| Haut lebte. Mein Gesicht war Millionen Dinge gleichzeitig. Alles war immer noch ich – mein Gesicht, meine Züge, meine Haut   –, nur dass das Ganze in der flimmernden Unschärfe nicht wiederzuerkennen war.
    Ehe ich näher hinschauen konnte, machte der Fahrstuhl
ping
, die Tür ging auf und Jayden wollte heraustreten. Als er mich sah – eine Kapuzengestalt mit einem Albtraumgesicht   –, erstarrte er, schockiert und zu Tode erschrocken. Ich streckte die Hand aus, um ihn zurück in den Fahrstuhl zu stoßen. Ich wollte ihm nur einen Schubs geben, doch als
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