iBurn-out - Zeit fuers Wesentliche
Abstand betrachtet konnte ich nun darüber lachen. Aber in dem Moment, als Ingo wirklich Hilfe braucht hatte, war diese Erfahrung eine derbe Enttäuschung und eine weitere Sackgasse gewesen.
Ich hatte Ingo auch zu einer uns unbekannten Heilpraktikerin geschleppt. Die legte Ingo gleich auf die Behandlungsliege und versuchte seine Energieflüsse durch Chakren-Reiki zu aktivieren. Zumindest versprach sie das für ihren verlangten Lohn. Nachdem sie mit den schwebenden Händen über seinen Körper gewandert war und Ingo seine Augen wieder hatte öffnen dürfen, erklärte sie ihm seine verschiedenen Körperregionen. Seine Lebensenergie, das Prana, würde aufgrund von Blockaden nicht störungsfrei fließen. Sie jonglierte mit lustig klingenden Begriffen und erklärte Ingos energetische Verbindung zur Erde über das unterste Chakra. Unter anderem hegte sein Muladhara-Chakra, auch als Wurzelchakra bezeichnet, den tiefen Wunsch nach Vermehrung. Sie hätte in ihren Visionen viele kleine Kinder und die Sonne gesehen. Sein energetisches Problem war gewissermaßen ein Lattenproblem.
Ingo erzählte mir danach belustigt von der Behandlung, aber weigerte sich strickt, dort wieder hinzugehen. Eine lange Liste der Behandlungsmethoden hatte auf der Visitenkarte der Heilpraktikerin geprangt, wie bei so vielen Hobbyheilern nach einem schnellen Wochenendkurs. Aber richtig Erfahrung schien sie damit nicht zu haben. Ihr umfangreiches Tätigkeitsportfolio riss ein bisschen von allem an: Bachblütentherapie, TCM – traditionelle chinesische Medizin, Akupunktur, Psychoenergetik, Reflexzonentherapie, Lichtarbeit und Reiki. Fehlte nur noch »Abrakadabra, Simsalabim, Hokuspokus und Fidibus«.
Obwohl es das sicherlich auch schon gab. Überall sprießten Praxen mit undefinierbaren Angeboten und Dienstleistungen aus dem Boden. Ein bisschen von allem: Huna-Schamanismus, Arbeit mit Futhark-Runen oder keltische Druiden. Manches aus Mexiko, Indien oder Tibet und dann auch noch mit Religion aus Buddhismus und Hinduismus vermischt. Offensichtlich musste es eine enorme Nachfrage nach diesen Behandlungsmethoden geben, was die große Zahl an Angeboten erklären würde.
Wir wussten, dass die klassische deutsche Schulmedizin nicht der Weisheit letzter Schluss war. Es gab vieles, das ohne rationale und hieb- und stichfeste Beweise wirkte. Alles was half, war gut, auch alternative Heilmethoden, denn in anderen Ländern und Kulturkreisen gab es seit Jahrhunderten unterschiedliche medizinische Traditionen. Doch die seriösen Anbieter dieser alternativen Medizin wurden durch die massenhaften und teuren Hobbyheiler in Misskredit gebracht. Wie fand man im Wust der Möglichkeiten das für sich Zutreffende? Und wie konnte man verhindern, auf irgendwelche Scharlatane hereinzufallen, die nur das schnelle Geld verdienen wollten und sich über die Leichtgläubigkeit ihrer Kunden ins Fäustchen lachten? Das waren schon damals die Fragen gewesen, für die Ingo und ich keine Antwort gefunden hatten. Dafür musste man sich Zeit nehmen, die wir scheinbar nicht hatten.
Ingo klappte sein Notebook endgültig zu. »Ich hole mir nur noch etwas zu trinken, dann komm ich zu dir.« Mit diesen Worten schob er seinen Stuhl zur Seite und verschwand in der Küche.
Ich musste daran denken, wie wir uns hilflos an jeden Strohhalm geklammert hatten: Bachblütentropfen, beruhigende Johanniskrauttabletten, Baldriantropfen, Globuli, Vitaminpräparate, homöopathische Rescue-Tropfen und irgendwelche Kräutertees. Es gab vieles zu kaufen, auch ohne Verschreibungen eines Arztes.
Ein Freund schenkte Ingo eine teure Vitaminkur aus der Apotheke, die wieder POWER geben sollte. In der Jugend hatten sie sich die neusten Platten geschenkt. Nun mit zunehmendem Alter war es soweit gekommen, dass sie sich ein Quäntchen Gesundheit in Form von sprudelnden Entspannungsbädern, handlichen Muskelmassagegeräten oder Wellness-Gutscheinen schenkten.
Aber alles, was Ingo ausprobierte, war nicht förderlich, wirkte oft kontraproduktiv und war vor allem halbherzig angepackt. Wir verhaspelten uns in Sinnlosigkeiten. Und wir konzentrierten uns auf die Schadensreduzierung, nicht auf die Ursachenbekämpfung. Oberflächliche Kosmetik anstatt tiefgreifender Sanierung.
Manchmal muss es leider erst »ganz Dicke kommen«, bevor es wieder aufwärts geht.
Ich setzte mich auf einen Holzstuhl, der auf dem Balkon stand.
Ingo kam mit zwei Gläsern in den Händen dazu. »Hier, du möchtest bestimmt auch etwas
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