Icarus
Sie annehmen.«
»Manchmal glauben wir, Menschen viel besser zu kennen, als wir es wirklich tun, Mr. Keller.«
»Das ist sicher richtig. Aber in diesem Fall trifft das nicht zu.«
»Ich habe noch nie jemanden getroffen, der geglaubt hat, daß es in seinem Fall zutrifft.«
»Ich kannte Kid.«
»Aber ich dachte, Sie hätten ihn fünf Jahre lang nicht mehr gesehen, ehe er wieder vor Ihnen stand. In fünf Jahren kann ein Mensch sich grundlegend ändern. Vor allem in diesem Alter, meinen Sie nicht?« Als Jack nichts erwiderte, als sie sah, welche Wirkung ihre Worte hinterließen, schlug McCoy einen sanfteren Ton an. »Mir ist klar, daß Sie dem jungen Mann sehr nahstanden, Mr. Keller. Daß Sie viel miteinander geredet haben. Manchmal erzählen die Leute uns eine ganze Menge, aber sie teilen uns nichts Richtiges mit. Verstehen Sie, was ich meine? Sie reden und reden und weichen dabei dem aus, was die Realität ist. Sie reden, um sich nicht zu offenbaren. Sie verraten uns nicht, daß sie leiden – bis es zu spät ist.«
Jack nickte. »Und in diesem Fall ist es offensichtlich zu spät, nicht wahr?«
»Ich fürchte, so ist es.«
Er brachte sie zum Fahrstuhl und drückte auf den Knopf. Schweigend standen sie da, bis der Fahrstuhl eintraf, dann streckte Jack die Hand aus und zog die Tür auf, aber Mc-Coy trat nicht sofort in die Kabine. Sie hatte innegehalten, um die gerahmten Fotos an der Wand der Eingangshalle zu betrachten. Bilder von Jack und Caroline. Von den verschiedenen Restaurants. Den Artikel im New York Magazine . Ihre erste Kritik und die Bewertung in Zagat’s.
»Mir tut aufrichtig leid, was passiert ist«, sagte sie zu ihm. »Und ich meine nicht nur das von heute, das mit dem jungen Mann.«
»Vielen Dank«, sagte Jack.
»An unserem vierzehnten Hochzeitstag lud Elmore, das ist mein Mann, mich ins Jack’s ein. Sie erinnern sich bestimmt nicht, aber Sie und Ihre Frau kamen an unseren Tisch, erfuhren, daß wir unseren Hochzeitstag feierten, und spendierten uns eine Flasche Wein. Es war ein ganz besonderer Abend.«
»Das freut mich.«
»Es war außerdem das beste Steak, das ich je gegessen habe – und ich bin eine begeisterte Fleischesserin.«
»Auf Wiedersehen, Sergeant.«
»Auf Wiedersehen, Sir. Machen Sie sich keine Vorwürfe. Und vielen Dank für den Kaffee.«
Es war Kaffeegeruch, der ihn in seine gegenwärtige Umgebung zurückholte: an die Reling der Staten-Island-Fähre. Sie würden gleich anlegen. Ein paar Schritte entfernt, gab eine junge Frau, zierlich, mit dunklem welligem Haar, sich alle Mühe, Kaffee aus ihrem Pappbecher zu trinken, während drei kleine Kinder um sie herumsprangen und versuchten, ihren Arm zu erhaschen. Als das Boot angelegt hatte, war Jack einer der ersten, die es verließen. Er wartete, bis Dom erschien, dann holte er den Zettel hervor, auf dem er die Wegbeschreibung notiert hatte.
Keine zehn Minuten später erreichten sie die kleine Kirche.
Ungefähr dreißig Personen hatten sich eingefunden. Die meisten schienen Angehörige zu sein. Jack sah Bryan, der neben Kids Mutter saß. Er sah verwirrt aus und war leichenblaß, als ob er durch Kids Tod einen Teil seines eigenen Lebens verloren hätte. Jack suchte unter den Anwesenden nach den schönen Frauen, mit deren Anwesenheit er gerechnet hatte, aber er fand niemanden. Wenn Kid in bezug auf ihre physische Schönheit nicht maßlos übertrieben hatte, was Jack für höchst unwahrscheinlich hielt, war nicht eine Angehörige seines »Teams« erschienen, um Abschied von ihm zu nehmen. Jack fand das besonders traurig. Es war der letzte schrille Schlußakkord eines Lebens, das viel zu früh geendet hatte.
Der Priester hatte ganz eindeutig keine Ahnung von den näheren Umständen von Kids Leben. Seine Ansprache war kurz und wenig persönlich. Der Tote hätte jede beliebige Person sein können. Es gab keinen Hinweis auf die Art und Weise, wie Kid gestorben war. Jack dachte, daß das Leugnen der Realität seines Todes irgendwie die Erinnerung an sein Leben minderte. Aber er wußte, daß er diesen Gedanken für sich behalten oder vielleicht mit Dom während der Rückfahrt auf der Fähre darüber sprechen würde.
Nach der schlichten Andacht gingen Jack und Dom auf den Friedhof, um der Beerdigung beizuwohnen. Soweit Jack erkennen konnte, ging jeder der Teilnehmer des Gottesdienstes mit. Kids Mutter schien zusammenzubrechen, während sie die erste Handvoll Erde auf Kids Sarg warf. Jack trat vor, um ihr zu helfen – er glaubte, sie
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